Das Meer in seinen Augen (German Edition)
glaube, er will weiterhin mit mir zusammen bleiben«, sagte Merlin. »Das ist es ja, was mir die Sache so schwer macht. Für ihn ist das nur so ein Ausrutscher oder was auch immer. Aber für mich - ich habe Angst, dass es eben nicht nur ein Ausrutscher war.« Er bemerkte, dass er vollkommen nervös wurde. »Ich - ich fühl mich echt scheiße deswegen. Und - ich bin derjenige, der nicht mehr will. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es ihm schon fast egal ist.«
Linda sah ihn schweigend an. Dann sagte sie schließlich: »Mensch, das ist ja schon fast sympatisch.«
»Was?«
»Na, du als Fremdgeher möchtest die Beziehung nicht weiterführen, weil du es nicht ertragen kannst - und das, obwohl David dir verzeiht? Sie schüttelte den Kopf.
»So einfach ist das nicht«, sagte Merlin.
»Liebst du ihn?«, fragte Linda.
»Ja.« Die Antwort kam prompt und ohne Überlegung. Merlin war selbst überrascht.
»Dann ist es doch sonnenklar, oder nicht?« Linda lächelte wieder. »Er liebt dich und verzeiht dir und du liebst ihn und machst in Zukunft keinen Scheiß mehr, fertig.«
Merlin sah sie hilflos an. »So einfach ist das aber nicht.«
»Warum nicht?«, frage Linda. »Ich meine, du gehörst doch nicht zu denen, die wirklich den gleichen Fehler noch mal machen, oder?«
Merlin schwieg. Natürlich wollte er nicht zu diesem Schlag Mann gehören, auf den Linda nun anspielte. Aber die Wahrheit sah nunmal anders aus.
»Oh nein«, machte sie entgeistert, als sie sein Schweigen deutete. »Da schätze ich dich aber anders ein.« Sie kniff die Augen zusammen. »Dann ist da also doch noch was mit dem anderen Kerl, oder?«
»Was meinst du?«
»Du bist in ihn verknallt und kannst dich nicht entscheiden.«
Merlin schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Reine Sexgeschichte?«
Er nickte.
»Aber, du und David, ihr macht doch auch ... oder?«
»Nein, noch nicht«, sagte Merlin. »Aber daran liegt es auch nicht. Das ist irgendwie alles viel - komplizierter.«
»Warum müssen Schwule immer alles noch komplizierter haben?«, fragte sie theatralisch und legte sich grazil die Hand an die Stirn. »Reicht es denn nicht, eine normale Affäre zu haben?«
»Das ist fies«, sagte Merlin und drehte sich ab. Hastig ging er auf das Schulgebäude zu.
»Warte!«, rief Linda und holte ihn ein. »Kenne ich ihn eigentlich?«
Merlin schwieg.
»Ich wette, du bist doch verknallt in ihn!«
»Nein«, antwortete Merlin genervt. Er spürte Hitze in seinen Kopf steigen.
»Sag schon, wer ist es denn jetzt?« Sie hopste neben ihm her. »Jemand aus der Klasse?« Sie lachte. »Jan etwa?«
Eigentlich hätte Merlin über den Witz, dass er mit dem Klassensprecher eine sexuelle Beziehung haben könnte, lachen müssen, aber stattdessen blieb er plötzlich verkrampft stehen.
Linda sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Dann würgte Merlin endlich den Namen heraus: »Paolo.«
98
David atmete tief durch. Der Gedanke, seinen Freund zu hintergehen, machte ihm immer noch zu schaffen. Er runzelte die Stirn. Lag nicht genau darin der Denkfehler? Merlin war nicht mehr sein Freund. Und Merlin war derjenige, der ihn hintergangen hatte! David bemerkte, dass er die Fäuste geballt hielt. Er wollte nicht wütend sein, aber irgendwie gelang ihm das nicht. Wieder schlich sich der Verdacht ein, dass er Selma lediglich deshalb über den Betrug aufklären wollte, um Merlin eins auszuwischen. Je mehr er darüber nachdachte, desto unangenehmer wurde die Gewissheit. Ja, wenn er ehrlich war, dann musste er sich eingestehen, dass es ihm schon gefiel, Merlin einen Denkzettel zu verpassen. Aber das war nicht alles. Im Grunde hoffte er auch darauf, dass Merlin zur Vernunft kam und sich vielleicht doch noch für ihn - und zwar nur für ihn - entscheiden würde.
Entschlossen verließ er sein Zimmer und ging die Treppe hinunter. Seine Mutter schien bereits auf ihn zu warten.
»Wohin gehst du?«, fragte sie neugierig.
»Rüber«, sagte David knapp.
»Ist denn schon Schulschluss?«
»Nein.«
»Was willst du dann drüben?« Sie sah ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen an, so als ob sie abschätzen wollte, ob er auch wahrheitsgemäß antwortete.
»Ich will mit Selma reden, okay?« David legte seine Hand auf die Türklinke und warf seiner Mutter einen herausfordernden Blick zu. Doch sie sagte nichts mehr und nickte nur. Er drehte sich um, schloss für einen Moment die Augen. Dann ging der Moment vorbei, ohne dass er über etwas Greifbares nachgedacht hatte. Er blinzelte kurz
Weitere Kostenlose Bücher