Das Meer wird dein Leichentuch
nicht. Wir beide sind in diesem Augenblick ohne Körper. Wir gleiten dahin wie ein Traum. Dein Körper, Danielle, liegt eingesperrt tief unten im Rumpf dieses Schiffes. Nur deinen Geist habe ich zu mir empor geholt, damit wir gemeinsam Abschied von dieser Welt nehmen können. Ein letzter Tanz im festlichen Ballsaal - und dann der nasse Tod im eisigen Element.“
„Es wird nicht wehtun?“, vergewisserte ich mich noch einmal.
„Du wirst leicht und sanft wie auf den Flügeln des weißen Schwanes hinübergleiten, Danielle!“, flüsterte der Tod.
„Ein letzter Tanz“, hauchte ich. „Ja, führe mich zu unserem Hochzeitstanz, Damian. Zum Tanz - mit dem Tod.“
Ich schmiegte mich eng an ihn. Damian legte seine Arme um mich. Übergangslos befanden wir uns mitten im Ballsaal.
Kostbare Kronleuchter warfen funkelndes Licht auf festlich gekleidete Menschen. Ich sah viele bekannte Gesichter in der Menge, die Damian und mich überhaupt nicht wahrnahmen. Paare wiegten sich in einem Slow-Fox über das Parkett.
John Jacob Astor wurde diesmal von Madeleine selbst begleitet. In ihrem Beisein schob er die Havanna entschlossen zurück in die Tasche. Molly Brown unterhielt eine ganze Gesellschaft mit ihren derben Späßen und Benjamin Guggenheim hatte eine schöne Frau gefunden, der er eifrig den Hof machte. Isidor Strauß und seine Frau tanzten eng umschlungen zwischen den jungen Paaren. Echte Liebe hatte sie über Jahrzehnte gemeinsam alt werden lassen. Bruce Ismay ließ sich vom anwesenden Hoch- und Geldadel hofieren wie ein König. Nur Kapitän Smith hatte sich entschuldigen lassen. Der alte Mann hatte sich in seine Kabine zurückgezogen.
Wir gingen zwischen den Menschen, die vor Lebenslust sprühten und über denen doch bereits der Schatten des Todes schwebte. Wieder sah ich Tränen in Damians Augen. Es tat ihm unendlich weh, viele von ihnen mitten aus dem Leben reißen zu müssen.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. In der Dimension, in der Damian und ich uns bewegten, schien sie stehen geblieben zu sein. War die ausgelassene Stimmung, die uns umgab, ein Traum - oder waren wir es selbst.
Ist nicht vielleicht das ganze Leben ein einziger Traum, aus dem wir erwachen, wenn wir sterben? Oder ist es das kurze Erwachen aus einem tiefen Schlaf der Ewigkeit, in die wir zurückgleiten, wenn das Ende unserer Tage gekommen ist?
Die Kapelle sagte das letzte Stück des Abends an. Einen Wiener Walzer. Und der Tod nahm meine Hand.
„Unser Brauttanz, Danielle“, hörte ich Damian flüstern.
Und dann wiegten wir uns im Dreivierteltakt zwischen all den fröhlichen Menschen auf dem Parkett. Ungesehen tanzten wir zu einer der unsterblichen Melodien von Johann Strauß. Gefühlvoll führte mich Damian und ich gab mich dem Tanz völlig hin.
Völlige Unbeschwertheit. Sich ganz gehen und treiben lassen. Losgelöst von allen Sorgen und Ängsten dieser Welt. Zeit und Raum versanken um uns herum. Es gab nur Damian und mich.
Ewig hätte ich so weiter tanzen mögen. Und vielleicht tanzen die Geister der Toten heute noch im Ballsaal der Titanic hinüber in die Ewigkeit ...
***
„Ich übergebe Ihnen das Kommando auf der Bücke, Mister Murdoch. Angenehme Wache. Ich habe Fleet und Lee oben im Krähennest noch mal besonders eingeschärft, dass sie auf Treibeis achten sollen.“ Charles Lightoller, der zweite Offizier, salutierte und verließ die Brücke.
Damian und ich standen, ohne dass uns das menschliche Auge wahrnehmen konnte, neben Robert Hichens, dem Mann am Steuerrad. Und ich spürte, dass ich den Beginn des schrecklichen Dramas mit eigenen Augen sehen würde.
„Murdoch trägt den Schicksalsstein über dem Herzen, Danielle“, flüsterte Damian. „Und nun wird das Verhängnis seinen Lauf nehmen.“
Ich konnte nicht antworten. Die Angst vor dem unausweichlichen Verhängnis ließ jedes Wort, das ich herauszupressen versuchte, auf meinen Lippen ersterben.
Mein Blick fiel auf die Uhr hinter dem Steuermann. Es war genau 23,39 Uhr.
Wie ein Grabes-Geläut schlug vom Mastkorb die Glocke an. Dreimal gellte ihr Schrei durch die Nacht. Sofort war Murdoch, der eben eine Eintragung ins Logbuch beendet hatte, am Sprachrohr.
„Was haben Sie
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