Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
die durch Membranen, also molekulare Übergangsbarrieren, von ihrer Umgebung getrennt sind und ein eigenständiges System bilden, den Anfang komplexerer Organismen.
»Alles in der Welt begann mit einem Ja. Ein Molekül sagte ja zu einem anderen, und das Leben begann«, formulierte die existenzialistische Autorin Clarice Lispector. 4 Aber warum geht diese Entwicklung immer weiter? Die Gesetze der Thermodynamik sagen uns doch, dass sich alle energetischen Prozesse irgendwann in ein Gleichgewicht begeben müssen. Komplexe Systeme sind jedoch immer energieaufwendiger als einfache. Das menschliche Hirn ist ein wahrer Energiefresser – es verbraucht 25 Prozent unserer Körperenergie bei einem Körperanteil von nur einem Fünfzigstel. Komplexe Zivilisationen brauchen, wie wir gesehen haben, gewaltige
Mengen von Energie, um sich selbst erhalten zu können. Genau hier setzen die Kulturpessimisten und Untergangspropheten an: »Das kann auf Dauer nicht gutgehen«, sagen sie uns, und nehmen diverse menschengemachte und natürliche Katastrophen (Zweiter Weltkrieg, Hiroshima, Klimawandel, Tsunami) als Beweis dafür, dass die »Entropie« am Ende siegen muss.
Das Computerspiel »Spore« simuliert die Evolution von der Ursuppe bis in eine interstellare Zivilisation. In Spore beginnt man als Bakterie. Im Prinzip könnte man auch die ganze Zeit unverändert in der digitalen Ursuppe herumschwimmen und es sich gutgehen lassen. Aber wenn in unserer Spore-Ursuppe aufgrund winziger Abweichungen manche Bakterienarten besonders fröhlich gedeihen, verschieben sich zwangsläufig Gleichgewichte, bis Instabilitäten entstehen. 5 Sprünge in Richtung Komplexität entstehen immer dann, wenn ein Gleichgewicht durchbrochen wird. Dafür reicht schon der Erfolg einer Variante. Weil sie sich besser ernähren, gedeihen und fortpflanzen kann, werden bestimmte Ressourcen knapp. Die Antwort der Evolution auf Knappheit ist immer Spezialisierung und Differenzierung. »Going Nische« sozusagen. Eine Bakterie entwickelt zum Beispiel die Strategie, sich mit einem Säuremantel gegen Fressfeinde zu schützen. Ein anderer Organismus nutzt Gift zur Verteidigung, ein weiterer Panzer. Augen bedeuten einen erheblichen Überlebensvorteil. Ein Hirn ermöglicht eine bessere Koordination verschiedener Sinneseindrücke und Aktionen als eine reine Nervenverdickung. Reflexe sind gut. Aber verarbeitete Reflexe sind noch besser, sie ermöglichen Abwägung, Varianz und Strategie. Bei diesem ganzen Gewusel »springt« das evolutionäre System in immer höhere Komplexitätsformen, weil sich darin neue Räume für das Überleben erschließen.
Es ist keineswegs so, dass das Universum Komplexität »braucht«. (Im Bereich der nächsten hundert Lichtjahre besteht das Universum um uns herum aus Gasen, Geröll und anderen einfachen Strukturen – und kommt wunderbar damit zurecht.) Aber dort, wo einige Bedingungen zusammenkommen – Wasser, Kohlenstoff, Energie, relative Konstanz von Druck und Temperatur –, entstehen Türme
von Komplexität aus dem Gesetz des akkumulierten Zufalls. Weil Evolution stets Zwänge mit Zufällen und Möglichkeiten kombiniert, steigt die Wahrscheinlichkeit für Komplexität.
Wenn Herman Kahns pessimistischste Atomkriegsszenarien schreckliche Realität geworden wären, hätte die Komplexitätsentwicklung auf diesem Planeten womöglich tatsächlich einen Rückschlag erlitten. Aus den radioaktiven Ruinen des Dritten Weltkrieges wären vielleicht die Zähesten von uns in eine neue Runde gestartet. Oder die robusten Kakerlaken als Sieger hervorgegangen. Wer weiß, was in hundert Millionen Jahren aus ihnen geworden wäre?
Falken und Tauben: Das Vielfalt-Prinzip
Noch einmal zurück zur Ausgangsfrage dieses Buches: Warum leben wir heute nicht, wie unsere Jäger-Sammler-Ahnen, in einem Gleichgewicht zwischen uns und der natürlichen Umwelt? Müsste sich nicht im Adaptionsprozess eine einfache Lebensweise per Pfeil und Bogen und Wurzelsammeln als evolutionär unschlagbar erweisen? Welche »evolutionäre Berechtigung« haben komplexere Gesellschaften gegenüber weniger komplexen, wenn sie doch dauernd nur Krisen stiften und Ressourcen verbrauchen?
Die Frage führt uns zu den grundlegenden Fehlannahmen der meisten Zukunftsdiskurse: Erstens, dass das »Ziel« der Evolution das Gleichgewicht ist. Zweitens, dass es objektive »Grenzen der Ressourcen« gibt. Drittens, dass Komplexität instabil und Einfachheit stabil sein muss.
Etwas Nachhilfe kann uns hier das
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