Das Merkbuch
seinerzeit als Lehrling in der Firma kennen, in welcher er seine beachtliche Karriere machen sollte; Vater förderte seinen jungen Freund nach Kräften – der ihn nach 1945 flink überholte, insofern er ein eigenes Unternehmen gründete. Das schon in den fünfziger Jahren einen Millionenumsatz erzielte. Erneut eine Aufsteigergeschichte.
Am 21. Mai gibt Vater 12.50 DM für Tabak aus, ebenfalls 12.50 für Cognac und 10 für Honig – wenn das richtig gelesen ist. Ebenfalls DM 10 erhalten Reinhart und Margrit gemeinsam.
Reinhart und Margrit, so hießen Sohn und Tochter von Kurt Hübner. Vater machte ihnen zusammen ein Geldgeschenk. Manchmal wohnte Vater im Haushalt der Hübners, Wilhelm-Hauff-Straße, wenn er in Kassel arbeitete; das sparte ihm die Hotelkosten, er konnte das Spesengeld einbehalten – wie gesagt, die Spesen bildeten den Teil seines Einkommens, auf dessen Höhe er aktiv Einfluss nehmen konnte. Was Vater gerne mit seinem alten Freund Kurt teilte, das war die Freude am Politisieren.
Den Monat Mai erfüllte der Untergang der französischen Kolonialherrschaft über Indochina; die Guerilla der Vietminh eroberte als letzte Bastion der Franzosen die Festung Dien-Bien-Phu, eine überlegene militärische Leistung des Generals Giáp.
Seinen besonderen Hohn und Spott goss Vater über den französischen Kommandeur von Dien-Bien-Phu aus, Christian Marie Comte de La Croix de Castries – allein diesen Namen pflegte Vater, der alte Franzosenfresser, mit geschmäcklerischer Verachtung mehrfach hintereinander zu wiederholen, Christian Marie Comte de La Croix de Castries, der Verlierer von Dien-Bien-Phu. Christian Marie Comte de La Croix de Castries, Reichserbtruchsess!
Der General Giáp dagegen, der siegreiche Vietminh-Kommandeur, war ursprünglich Lehrer, schon wieder eine Aufsteigergeschichte. Guerillakommandeur schlägt französischen Aristokraten, der eine solche Niederlage sich unmöglich hatte vorstellen können. Ein Comte de Castries verliert keinen Krieg.
Die Schlacht begann am 13. März, und 8200 von den 20 000 französischen Soldaten fallen oder werden vermisst; 1600 desertierten; der Oberst de Castries ging mit ca. 10 300 Mann in die Kriegsgefangenschaft, die nur 3200 Mann überlebten. De Castries selbst wurde nach vier Monaten entlassen und daheim sofort zum General befördert. Was Vater am Abendbrottisch zu den entsprechenden Tiraden provozierte. La Gloire de la France!, höhnte er. La Grande Nation! Französisch war ja die einzige Fremdsprache, von der er ein bisschen was verstand.
Am 25. Mai beginnt ein neues Kapitel. Vater überschreibt es Hommelwerke und lässt die Ortsangabe fort. Das Kapitel reicht erst einmal bis zum 5. Juni, wo sich eine dieser kleinen Rechnungen findet, das Fahrgeld, das die Reise von Mannheim (12.00 Uhr) nach Hause (19.16 Uhr) kostet (41.20). Fünf Mark kostet ein Auto: Anscheinend musste Vater ein Stück des Weges im Taxi zurücklegen. Am 6. Juni, Sonntag, geht es schon wieder in das Kapitel Hommelwerke zurück (Stichwort Universalwerkstättengerät).
Am 25. Mai, Dienstag, als Vater bei den Hommelwerken anfing, feierte der Sohn seinen 11. Geburtstag. Er hatte ja die Sextanerprüfung bestanden, er war jetzt Gymnasiast. Sein Leben ähnelte jetzt dem seines Vaters insofern, als er viel Zeit auf der Eisenbahn verbrachte. Das Gymnasium befindet sich ja in der Kreisstadt, die von unserer kleinen Stadt 11 Kilometer entfernt liegt. Die Eisenbahnfahrt dauerte ein halbe Stunde; man musste einmal umsteigen. Die Züge fuhren nur selten: Morgens mussten die Gymnasiasten aus unserer kleinen Stadt den Zug um 7.22 Uhr erreichen; mittags schafften sie in der Regel erst den um 14.08 Uhr. Die nächsten neun Jahre nimmt der Sohn sein Mittagbrot gegen 15 Uhr ein, denn der Weg vom Bahnhof zu dem Haus am Wald dauerte noch einmal 20 Minuten. Jetzt, im Frühling, herrschte morgens beim Hinweg schon Tageslicht, womöglich sommerlicher Sonnenschein. Später im Jahr muss der Sohn den ersten Teil seines Schulwegs in der herbstlichen und winterlichen Dunkelheit zurücklegen. Auf Feldwegen vom Wald zur Stadt; die steilen Gassen und Treppen hinunter ins Tal, wo die Eisenbahn fuhr; und nachmittags den Weg zurück, den Hang, an welchem unsere kleine Stadt sich ausbreitete, hinauf, über einen der Feldwege zu dem Haus am Wald.
Die Wartezeiten in der Kreisstadt strengten den frischgebackenen Gymnasiasten so gründlich an. Man kam doch nicht aus der Schule, erleichtert, erschöpft, stieg in den Zug und
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