Das Merkbuch
verbliebene Kosmonaut die Ewigkeit verbringt, so lange alternd, bis er wieder ein Embryo ist oder so, alles wird sinnlos und schön und bewunderungswürdig.
Als Tagträumer kurvte der Sohn ja selber durch den Weltraum; der umgebaute Messerschmidt-Kabinenroller bildete nur den kleinsten Teil seiner Flotte, eine Art Ruderboot zwischen den großen Schiffen (Shuttle wird dies Transportmittel in der TV -Serie Star Trek heißen, die 1966 anhebt). Hier waren ebenso die Plexiglasröhren unterschiedlichen Durchmessers von Nutzen, die man zu einer Art Antenne aufstecken konnte, um Botschaften aus dem All zu empfangen. Am schönsten aber fand der Knabe einen Abschnitt Plexiglasröhre, deren Durchmesser groß genug war, dass er seinen Kopf hineinstecken und das Ding auf den Schultern tragen konnte, sein Weltraumhelm, den er oben mit einer Pappscheibe abdichtete. Gewiss nutzte Vater seine Beziehungen zu demjenigen Herrn Eckert, welchen er bei Röhm & Haas kennengelernt hatte, dem Mann mit innerbetrieblichem Einfluss, um seinem Söhnchen dies wundersame Stück Plexiglasrohr zu verschaffen. Es musste extra zugeschnitten werden – und der Sohn bildete wieder mal eine dramatische Vorstellung von der Macht seines Vaters da draußen in der Welt aus, die ihm verschlossen war. Eine Zeitlang durchstreifte seinen Weltraum eine Stadt, die auf einer Scheibe siedelte und von einer monumentalen Plexiglaskuppel überwölbt wurde, sie beschützte die Stadt vor der Kälte des Alls und garantierte den Bewohnern die Luft zum Atmen. Der Kopf des Jungen unter dem Weltraumhelm, den Vater ihm hatte zuschneiden lassen, der Knabenkopf ist eine Stadt.
In diesem Jahr appliziert Vater eine radikal andere Aufzeichnungstechnik, die durchzusetzen aber eine Weile braucht.
So beginnt er am 1. Januar in der bekannten Manier: Röhm & Haas, Darmstadt, und fährt damit bis zum 5. Januar fort; so schließt er vom 6. bis zum 9. Januar mit Urlaub Urlaub Urlaub und so weiter an, um vom 11. Januar bis zum 22. Januar Röhm u. Haas, D’stadt einzutragen. Und dann beginnt der Text sich sogar zu komplizieren: Am 24. Januar, Sonntag, vermerkt Vater die Abfahrtszeit aus Frkft (8.58 Uhr) und die Ankunft zu Hause (14.30 Uhr); am 25. und 26. Januar schreibt er wiederum Urlaub, und am 27. und 28. Januar arbeitet er bei einer Firma namens Fendel in Mannheim (wieder eine Schifffahrtsgesellschaft, die auf Kohlentransporte spezialisiert ist). Vom 1. Februar, Montag, bis zum 6. Februar, Samstag, schreibt Vater dramatisch und schwungvoll krank krank krank auf die Datumsfelder. Für Montag, den 8. Februar, schreibt Vater in sein Merkbuch Verwaltungs- und Verrechnungs GmbH, Frankfurt a. M. Das gewohnte Hin und Her. Ein Mann von 60 Jahren erlebt das als Überanstrengung, Konfusion; er fühlt sich sinnlos herumgeschubst. Gar keine Gefühle von Wichtigkeit, gar Abenteuer mehr.
Deshalb die neue Aufzeichnungstechnik: Es bleiben alle Tage bis zum 21. Februar, Sonntag, leer. An diesem Sonntag schreibt Vater Abfahrt nach M’heim, am Montag Verkehrs-Enquête bei Fendel, Mannheim, um bis zum 3. März, Aschermittwoch, wie der Kalender ausdruckt, wiederum alle Datumsfelder frei zu lassen.
Treuarbeit Stuttgart schreibt Vater an diesem Mittwoch auf; dasselbe am 4. März, um mit Rückfahrt nach Mannheim fortzufahren und die Abfahrt nach Dortmund für 20.03 Uhr einzutragen, wo er um 0.39 Uhr ankommt. Der Fahrpreis beträgt DM 45; er wohnt im Hotel Haus Gernhardt, Münsterstr. 187, Tel. 34422, wie in den Notizen zu dieser Woche vermerkt ist.
Wie die Firma heißt, deren Bücher Vater am 5. März zu prüfen beginnt, ist kaum zu entziffern, Westdeutsche Transport a. g. oder so ähnlich.
Eine Westfälische Transport AG ist in Dortmund zu finden, die übrigens mit Fendel, Mannheim, zusammenhängt, schon wieder ein Schifffahrtsunternehmen. On revient toujours à ses premiers amours, wenn schon kein Kapitän auf großer Fahrt, dann wenigstens fortlaufend mit der Binnenschifffahrt beschäftigt. Und die fehlenden Tageseintragungen machen das Merkbuch unseres Vaters nun doch dem des Romanvaters von Joyce Carol Oates ähnlich, der die gelebten Tage mit einem großen X vernichtete.
Dann wieder leere Tage, bis zum 10. März, für den Vater vermerkt: zu Haniel u. Cie, Duisburg Ruhrort. Und erneut keine Eintragungen bis zum 13. März; da heißt es Rückfahrt nach Hause.
Man versteht. Statt jeden Tag mit dem Arbeitsort und der entsprechenden Firma zu markieren – Röhm u. Haas, D’stadt –, bildet Vater
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