Das Merkbuch
sozusagen Kapitel über die Einzeltage hinweg. Verwaltungs- und Verrechnungs GmbH Frankfurt a. M. ist solch ein Kapitel; Verkehrs-Enquête bei Fendel Mannheim das nächste; dann Treuarbeit Stuttgart, Westfälische Transport AG Dortmund, Haniel u. Cie Duisburg Ruhrort. Die Überschrift für die leeren Tage muss man in der jeweils letzten Eintragung erkennen. Ein solches Kapitel erstreckt sich dann vom 14. März bis zum 15. April und ist wieder mit Röhm u. Haas D’stadt überschrieben; darauf folgt vom 20. April bis zum 24 Mai wieder Spinnfaser.
Vater bildet größere Erzählzusammenhänge. Ohne sie freilich auszufüllen. Ja, sie enthalten, was die Schrift angeht, Leere.
Am 7. April lehnen die Bundesregierung und der Bundestag die Anerkennung der DDR ab und erklären den Alleinvertretungsanspruch der BRD für alle deutschen Interessen und Belange; sie ist der wahre und wirkliche Nachfolger des Deutschen Reiches.
Vater missbilligte die Nichtanerkennung der DDR und den Alleinvertretungsanspruch der BRD – wie er Mutter und Sohn am 15. oder 16. April bei seinem Aufenthalt zu Hause erklärte –, wobei die Missbilligung keine besseren politischen Ideen zeitigte (die ohnedies niemand von dem kleinen Angestellten, der kein Mitglied irgendeiner politischen Partei war, erwartete), sondern sich ganz allgemein seiner Abneigung gegen den Bundeskanzler Adenauer und seine Politik verdankte. Das genossen sie immer wieder und intensiv, die Westdeutschen, die Freiheit, ihre politischen Führer gründlich abzulehnen, ohne Folgen.
Irgendwann in diesen Monaten fand in der Kreisstadt Melsungen – wo das Kreiskrankenhaus Mutter und Sohn wegen ihrer kaputten Füße behandelt hatte und die Großmutter gestorben war – eine Woche lang die Sextanerprüfung statt, die interessierte Volksschüler daraufhin testete, ob sie auf das Kreisgymnasium wechseln dürften. Eine Frage, deren Beantwortung naturgemäß Vater und alle seinesgleichen, die ihrem Nachwuchs den sozialen Aufstieg als Lebensziel vorschrieben, heftig beschäftigte. Eine Woche lang wurden also die kleinen Jungs und Mädchen gründlich examiniert, in der fremden Stadt, in der fremden Schule, von fremden Lehrern. Vater war so stolz, dass der Sohn die Prüfung bestand und demnächst in einen Gymnasiasten sich verwandeln würde; was Vater als Jüngling ebenfalls, aber nur für kurze Zeit, nicht bis zum Abitur gewesen war. Versteht sich, dass wieder nichts davon im Merkbuch verzeichnet ist.
Vater ließ die größeren Erzählzusammenhänge, die er durch die Kapitel seiner Arbeitsverhältnisse bildete, nur an manchen Tagen völlig textfrei. An anderen kommen diese kleinen Rechnungen zurück, von denen wir nicht genau wissen, ob sie Stolz und Freude oder ob sie Sorgen zum Ausdruck bringen.
Mantel 164, Schal 19.50, Schuld an Wegener 100. Hut 39; Tabak 13; Fernglas 15; Strümpfe 12, Kaffee 3, Uhr 7; Kino 7.20; Kaffee und Zigarren 22.70; Mann Thomas 42, unleserlich 20, Zigarren 3; Blumen 6.
Sie waren am 12. Mai für Mutter bestimmt, Geburtstag, sie ist 46 Jahre alt. Ebenso für Mutter bestimmt war Mann Thomas, für DM 42, eine ganze Menge Geld. Vermutlich Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, die dies Jahr herauskamen und auf die Mutter, die ja Thomas Mann seit ihrer Jugend bewundert, sich wieder heftig freute.
Thomas Manns Bücher kaufen und lesen, Thomas Mann bewundern, das zählt gleichfalls zu den Maßnahmen, die den gesellschaftlichen Aufstieg fördern sollen. Womöglich an den Sohn den Gedanken weiterreichen, dass Schriftsteller eine Karriere für ihn wäre . . .
Am Mittwoch, dem 28. April, DM 7.20 für Kino, das lädt wieder zum Ausfabulieren einer Liebesgeschichte ein, denn es müssen, sagt der Preis, zwei Personen ins Kino gegangen sein. Da arbeitete Vater, wenn wir der neuen Kapitelbildung glauben, bei der Spinnfaser in Kassel und führte also am Feierabend seine Liebste aus. Wie die Matrosen – zu denen er einst so gern gehört hätte – unterhielt er in jedem Hafen ein Mädchen, in Kassel, Darmstadt, Frankfurt/Main, Stuttgart, München . . .
Im Adressenteil des Merkbuches ’54 findet sich K. Hübner, Hauffstr. 14, Kassel, Tel. 5355. Und unter den Buchstaben EF findet sich, wiederum in einer anderen Handschrift als der genähten Vaters, eine halb leserliche Eintragung namens A. Fülber mit ganz unleserlichem Wohnort und der Haus- oder Telefonnummer 44.
Kurt Hübner, das war seit langem der beste Freund von Vater. Er lernte ihn, der 15 Jahre jünger war,
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