Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
Vom Netzwerk:
um die Welt dem Herrenmenschen zu unterwerfen. Versteht sich, dass alliierte Luftangriffe die Darmstädter Produktionsanlagen gründlich zerstörten; dass die wunderbaren Maschinen zur Herstellung des Wunderstoffs Plexiglas demontiert und in die siegreichen Nationen verschleppt wurden. Aus Plexiglas bestand dann wieder der Kopfdeckel des Messerschmidt-Kabinenrollers, den vergangenes Jahr die Internationale Automobil-Ausstellung präsentiert und dessen Abbildung in den Illustrierten den Sohn zur Erfindung eines Flugkörpers inspiriert hatte, mittels dessen er durch die Täler und Wälder des mitteldeutschen Mittelgebirges kurvte.
    1945 beschäftigte Röhm & Haas nur noch 527 Werktätige. Otto Röhm trat in den Betrieb ein, der Sohn von Otto Röhm, und langsam bastelte man sich, wie in so vielen deutschen Betrieben, wieder nach oben. 1947 lief erneut die Produktion von Plexiglas an, und 1952 beschäftigte Röhm & Haas schon wieder 1000 Werktätige.

    Vater prüfte, wie öfter, die Bücher eines frisch erblühenden Betriebs und trug so zu diesem Erblühen bei. Nicht am 3. Januar, Sonntag, aber am 4. Januar; da erhielt er zugleich einen Vorschuss von DM 300 auf die Spesen. Am 5. Januar ist erneut Röhm & Haas verzeichnet; aber um 14.35 Uhr die Abfahrt von Darmstadt und die Ankunft um 22.15 Uhr zu Hause, was Vater durch die Buchstaben E und P ergänzt, die vermutlich Eilzug und Personenzug bedeuten, zwei unterschiedliche Geschwindigkeitsklassen. Vom 6. bis zum 9. Januar verzeichnet Vater Urlaub Urlaub Urlaub Urlaub. Am 10. Januar, Sonntag, fährt er zurück nach Darmstadt, zu Röhm & Haas (wohnt im Hotel Brenner), eine Arbeit, die bis zum 22. Januar, Freitag, dauert.

    Röhm & Haas prägte sich dem Gedächtnis des Sohnes tiefer ein als jede andere Firma, bei der Vater die Bücher prüfte, Spinnfaser, Kühne + Nagel, Steg, Stromeyer. Das kommt daher, dass Vater von ihnen nichts Anschauliches nach Hause mitbrachte außer den Akten in seiner Aktentasche, die tabu war, Akten, denen der Sohn als Kind auch gar kein Interesse entgegenbringen konnte. Denn sie schienen komplett undurchdringlich, unverständlich, hermetisch: Was soll das heißen, Vater prüft die Bücher?
    Von Röhm & Haas in Darmstadt dagegen brachte Vater stets Plexiglas nach Hause mit. Gebrauchsgegenstände aus dem fortschrittlichen Material, die Röhm & Haas auf dem Markt zu lancieren versuchte: Fischbestecke, Salatbestecke, Schüsseln; Nippes wie den in Plexiglas eingegossenen Seestern, der, wie das Salatbesteck, tatsächlich einen Prototyp bildete, für diverse Souvenirs, die in den Andenkenläden der Touristenorte zu kaufen waren (Souvenirs, die aber, statt in Plexiglas, meist bloß in Kunstharz eingegossen waren, das rasch innere Risse bekam, als wollte es splittern, sodass die eingegossenen Memorabilien unsichtbar wurden).
    Die größte Freude aber machten Vaters Mitbringsel von Röhm & Haas in Darmstadt dem Sohn, wenn das Plexiglas vollkommen sinnlos war, Röhrenabschnitte mit verschiedenen Durchmessern, die man ineinanderstecken konnte, sodass eine Art schwankender Mast oder Turm entstand – so was lieben Jungs –, außerdem schöne rechteckige Platten verschiedener Größe, die man zu nichts verwenden konnte, bloß irgendwo hinstellen oder hinlegen und bewundern.
    Einen starken Effekt erzielte Vater, als er eines Abends, nach Hause zurückgekehrt – vielleicht am Dienstag, 5. Januar, und am 6. Januar begannen die Urlaubstage –, in seine heilige Aktentasche griff und einen schweren Block Plexiglas herausholte. Er stellte ihn auf den Abendbrottisch, ein schönes, durchsichtiges Quadrat, dessen Glätte und Durchsichtigkeit perfekt zu den rauen, opaken Sägekanten kontrastierte. Da stand es also, das sinnlose Plexiglas, und alle waren begeistert.
    Bei keinem Umzug ging der sinnlos-schöne Block verschütt, und als Vater und Mutter längst tot waren, der Haushalt aufgelöst, überdauerte er in der Wohnung der nächsten Generation, ohne irgendeinen Zweck angenommen zu haben (Untersetzer für heiße Töpfe oder Grünpflanzen, Buchstütze). Immer stand das schöne Stück Material einfach herum und wurde als solches bewundert.
    Diese Stele wie aus Stonehenge, die in dem Kultfilm plötzlich in der Urlandschaft herumsteht und die Urmenschen, die im Grunde noch Tiere sind, zu ersten humanen Intelligenzleistungen inspiriert, zu Waffengebrauch. Später leitet die Stele das Raumschiff aus dem Sonnensystem heraus oder so, und sie steht in dem Salon herum, wo der

Weitere Kostenlose Bücher