Das Merkbuch
dem nächsten Tag ein Kapitel Stromeyer aufschlägt; Stromeyer, die wir bislang aus Mannheim kennen (wohin die Firma einst aus Konstanz übersiedelt war), unterhält also eine Filiale in Kassel, deren Bücher eine eigene Prüfung erfordern. Am 4. Juli, Sonntag, beginnt sogar ein Kapitel Stromeyer Hamburg, wobei das Fahrgeld von DM 90 für zwei Personen gilt, wie Vater vermerkt.
Das entfesselt wieder die Spekulation über die Liebesromane, die Vater in jedem seiner Häfen verfolgte: Hier nähme er ein Mädchen aus dem einen Hafen (Kassel) in den anderen Hafen (Hamburg) mit . . .
Nein, es war Mutter, die Vater auf die Reise mitnahm. Ein paar schöne Tage in Hamburg; Mutter sollte sich erholen von dem anstrengenden Leben in dem Haus am Wald, von dem Leben in unserer bildhübschen, aber zugleich doch engen und dumpfen kleinen Stadt. Wie sie zusammen am Hafen herumspazierten, erzählte Mutter später, und gemeinsam in die weite Welt hineinschauen konnten.
Dass Mutter die zweite Person war, die am 4. Juli nach Hamburg fuhr, das fehlt natürlich wieder in Vaters Merkbuch. Aber wie sollen wir die neue Technik der Kapiteleinteilung verstehen? Dass Vater darauf verzichtet, jeden Tag den Arbeitsort und die Firma einzutragen, deren Bücher er studiert, als könnten die Vorgesetzten doch noch mal anhand seines Kalenders überprüfen, ob er seine Zeit restlos in ihrem Dienst verbraucht, wie sie es bezahlen.
Diese Prüfung fand, wie Vater wusste, nie statt; er ist alt genug, um ihr verlässlich zu entgehen, in diesem Jahr wird er 61. Das Buch seines Arbeitslebens ist bald abgeschlossen – so kann er sich selbst diese Kontrollmaßnahmen in Listenform ersparen. Er begnügt sich mit den Überschriften seiner Arbeitseinsätze. Resignation. Zugleich steigert das seine Souveränität. Statt sie zwanghaft mit dem Orts- und dem Firmennamen zu besetzen, die ja schon für die Tage davor galten und für die danach gelten werden, erlaubte er sich, diese Datumsfelder leer zu lassen, und so reden diese leeren Felder viel lauter über seine Person als die listenförmige Aufzählung. So ähneln die leeren Felder in gewisser Weise den kostbaren Eintragungen Korntal, Waldburg . . .
Am 30. Oktober, Samstag, geht es wieder nach Korntal. Es heißt aber diesmal zu Wertz’s, und Vater trägt das Geld ein, das der Ausflug von Mannheim, wo er wieder bei den Hommelwerken arbeitet, nach Stuttgart kostet, Fahrt 20, Gesch. 10, zusammen 30. Davor erstreckt sich ein weiteres Stromeyer-Kapitel (Mannheim) und ein langes Urlaub-Kapitel, das vom 22. August bis zum 19. September reicht (und dem ein weiteres Kapitel Hommelwerke folgt). Zwischendurch beschäftigt Vater sich immer wieder mit seinen kleinen Rechnungen, an W. bis einschl. 1.8.54 DM 117.85 bezahlt. An Ruth DM 100. An Wegener einschl. 1.10. DM 117.60 bez. Krawatte 5, Strümpfe 18, 5 Monika. 50 Hupfeldt. Ruth 20, Kaffee 5.50.
Die fünf Mark für Monika am 2. Oktober bringen einen wieder auf Liebesgedanken, der Blumenstrauß, die Zeit mit Monika. Die Krawatte und die Strümpfe machen den Mann von 60 Jahren hübscher.
Tatsächlich gab es keine Monika im Umkreis, weder unter den Freunden noch den Bekannten von Vater. Monika hieß vermutlich das Zimmermädchen in der Pension Wegener, Mannheim, und Vater bedankte sich für ihre Dienste während seines Aufenthalts, das Betten- und Saubermachen, die kleinen Handreichungen, mit einem Trinkgeld. Die Desillusionierung ist eine eigene poetische Strategie. So haben wir am 4. Juli, als Vater mit Mutter und niemandem anderes nach Hamburg reiste, damit sie endlich mal an seinen Reisen teilhabe, ein zentrales Ereignis von nationalhistorischer Reichweite ignoriert.
Am 4. Juli 1954 gewinnt die Bundesrepublik in Bern, Schweiz, die Fußballweltmeisterschaft, die alle dem Gegner, den Ungarn, zugetraut hatten. Der Sieg gilt in der nationalen Mythologie als Neubeginn der deutschen Geschichte. Namen wie Fritz (und Ottmar) Walter, Toni Turek, Jupp Posipal, Helmut Rahn ersetzten die Namen der Kriegshelden; der Ruhm Sepp Herbergers, des Trainers, überstrahlte den Ruhm Erwin Rommels – und Herberger hatte, anders als Rommel und seinesgleichen, gesiegt.
Den Dokumentarfilm über die Fußballweltmeisterschaft sah der Sohn, wie den über die Krönung Elisabeths II ., gemeinsam mit der Tante wieder in einem der Kinos von Kassel. Die Tante genoss sie, die nationale Wiederauferstehung im verkleinerten Maßstab, wie man deutlich erkannte – obwohl die Tante, wie gewöhnlich,
Weitere Kostenlose Bücher