Das Merkbuch
fuhr nach Hause, nein, man hatte Zeit rumzubringen, bis der Zug nach Hause ablegte, der auf der nächsten Station, einem kleinen Dorf, einem bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt, noch einmal zu wechseln war (was zu Verspätungen führen konnte). Wie vertrieben sie sich die Wartezeit, die frischgebackenen Gymnasiasten? Sie trödelten in kleinen Horden durch die anfangs noch unbekannte Kreisstadt, laut, lustlos, gelangweilt. Sie saßen im Wartesaal des Bahnhofs herum, brütend, lärmend, bis der Wirt sich den Radau verbat. Wer nichts wird, wird Wirt, replizierten die Jungs flüsternd, wer gar nichts wird, wird Bahnhofswirt . . .
Klassenkampf! Die Gymnasiasten führten dem Bahnhofswirt nachhaltig und Tag für Tag die Sozialchancen vor Augen, die ihm je schon gefehlt hatten. Er hatte seine Gründe, die impertinenten Jungs, die seine anderen Gäste störten, wie er meinte, unerträglich zu finden. Ohne sie aus seinem Wartesaal vertreiben zu können; die Gymnasiasten, der zukünftige Stolz der Nation.
Worauf es ankam beim Warten im Wartesaal: ob man was verzehren konnte, ob das Taschengeld noch für eine Sinalco reichte; oder so ein Zeug, das heiße Fleischbrühe hieß und 25 Pfennige kostete. Schön dagegen der Becher Buttermilch, den unten in der Stadt eine Bäckerei für fünf Pfennige anbot; auch wenn es die Jungs befremdete, dass es sich bei den Trinkgefäßen offensichtlich um Zahnbecher handelte, aus dem Kunststoff Bakelit und deshalb unzerbrechlich. – Manchmal konnte man die Wartezeit durch Lesen rumbringen (aber die Kumpels störten). Manchmal konnte man sogar die Hausaufgaben anfangen (und so den freien Nachmittag zu Hause verlängern) – aber das trug einem leicht die Verachtung der Genossen ein: Streber! Es kam darauf an, die Langeweile der Wartezeit solidarisch zu durchleiden.
Manchmal hatte man Glück: Dann holte einen der Kumpel sein Vater mit dem Auto ab, und man durfte mitfahren.
Aber darauf kamen sie nicht, die Eltern in unserer kleinen Stadt, die schon ein Auto besaßen, einen Fahrdienst für ihre Fahrschüler zu organisieren, der ihnen das sinnlose Warten nach der Schule ersparte. Das rechneten sie zur Schule des Lebens, die Eltern der fünfziger Jahre, dass die frischgebackenen Gymnasiasten die Unlust des Fahrschülerdaseins klaglos ertragen lernten. Keine Verzärtelung; welche Schäden soll es mit sich bringen, wenn die Jungs ein paar Mal in der Woche eine Dreiviertel- oder gar eine ganze Stunde auf den Zug nach Hause warten mussten, umgetrieben von Langeweile?
Die Langeweile. Ein Philosoph könnte ein Prunkzitat platzieren: »So aufgesplittert der Alltag erscheinen mag, er behält immer noch das Seiende, wenngleich schattenhaft, in einer Einheit des ›Ganzen‹. Selbst dann und eben dann, wenn wir mit den Dingen und uns selbst nicht eigens beschäftigt sind, überkommt uns dieses ›im Ganzen‹, z. B. in der eigentlichen Langeweile. Sie ist noch fern, wenn uns lediglich dieses Buch oder jenes Schauspiel, jene Beschäftigung oder dieser Müßiggang langweilt. Sie bricht auf, wenn ›es einem langweilig ist‹. Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen.« 12
Die kleinen Angestellten, weisungsgebunden, denen Vorgesetzte ihre Arbeit zuteilen, diese kleinen Angestellten, die seit den zwanziger Jahren massenhaft die Bühne betraten, sie würden im Büro unablässig von der Langeweile attackiert; sie wären die privilegierten Empfänger dieser metaphysischen Erfahrung, der Frage nach dem Seienden im Ganzen.
Als er in die damals so genannte Volksschule eintrat und die Angehörigen den kleinen Jungen fragten, wie’s ihm dort gefalle, antwortete er düster: Da komme ich nie wieder raus . . . Das Gymnasium, zu dem er mit der Eisenbahn reisen musste wie Vater zu seinen Arbeitsstätten, verstärkte das Gefühl der Unentrinnbarkeit. Die Schule, wo das Schulkind auf einem Stuhl an einem Tisch sitzt, bis es zur Pause klingelt; wo man nur reden darf, wenn man gefragt wird; wo einem die Arbeit zugeteilt und dann geprüft und benotet wird – das alles wirkt wie eine praktische Einführung in das Leben der Angestellten.
Vaters Arbeitskapitel Hommelwerke wurde am 5. Juni nur unterbrochen; am 6. Juni schon fortgesetzt. Es dauert bis zum 21. Juni. Für den 22. Juni vermerkt Vater nach Kassel, wo er mit
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