Das Merkbuch
ihre Gefühle gut zu verbergen verstand. Doch hier brachen sie durch, und der Ausdruck patriotischer Begeisterung verwirrte den Sohn.
Es fiel auf, dass weder Vater noch Mutter noch Sohn an der Fußballweltmeisterschaft intensiven Anteil nahmen.
Bei Mutter verwundert das kaum; es dauert noch lange, bis weibliche Menschen sich intrinsisch oder auch bloß demonstrativ für das Fußballspiel interessierten. Die Freude jener Tante kam ja woanders her. – Dass Vater und Sohn ohne rechtes Fußballinteresse waren, individualisierte sie gründlich und unterschied sie erkennbar von ihren Mitbürgern.
Vater blieb ein Mann des Wassers. Das Segeln, dem er sich in den Zwanzigern und Dreißigern während der Freizeit widmete, blieb der einzige Sport, der ihn fesseln konnte. Während die Tante das später zu einer Gewohnheit machte, Fußballspiele im Fernsehen anschauen, gemeinsam mit ihrer Freundin Kahler, die ursprünglich ihre Hausangestellte war und unsere kleine Stadt beeindruckte, weil sie ein schweres Motorrad fuhr. Tante hatte ja selber was von einem Kerl. Sie leitete diese Fabrik, damals der mächtigste Arbeitgeber in unserer kleinen Stadt; sie hatte in den Wäldern ringsum eine Jagd gepachtet, in die sie an manchen Abenden, zünftig gekleidet, die Flinte über der Schulter, sich aufmachte; dann lag später ein schönes Tier im Hof des alten Hauses am Markt, tot, aufgebrochen, sodass man das leere, blutige Innere anschauen konnte, fasziniert und angeekelt. Dann war die Tante mit einem Fichtenzweiglein am grünen Filzhut zurückgekommen, mit dem Tierblut angeklebt. Scharfe Gerüchte kursierten in unserer kleinen Stadt betreffend das Liebesleben der Tante.
Vater beschließt das Jahr 1954 mit Kapiteln, die ihn nach Frankfurt/Main, zu einer Firma namens Generatorkraft, führen – er wohnt im Hotel Schürmann, Taunusstraße 50, Telefon 32092 – sowie erneut zur Spinnfaser nach Kassel. Für die Wochenenden (Samstag/Sonntag) verzeichnet er regelmäßig Fahrten nach Hause, samt Start und Ankunft und Fahrpreis. Am 29. Dezember beginnt er wieder ein Kapitel bei Röhm & Haas, Darmstadt, dem Plexiglas.
Die Firma Generatorkraft, 1940 in Berlin gegründet, erwarb und vertrieb so genannte feste Brennstoffe wie Holz, Kohle, Torf. Bedeutend für die Kriegsproduktion; 1943 saßen im Aufsichtsrat Wirtschaftsführer, deren Namen man aus der Bundesrepublik kennt, Carl Borgward, Karl Hettlage, Hugo Stinnes. 1954 zog die Firma von Berlin nach Frankfurt/Main; 1955 wurde sie aufgelöst.
Wiederum streifte Vater am Rande bedeutendes und mächtiges Kapital. Konnte an den Wochenenden bei den Sonntagsspaziergängen und am Mittagstisch von den finsteren Männern erzählen, die jetzt, nach der Hitlerzeit und dem Krieg, umsichtig ihre Macht und ihr Geld in Sicherheit brachten.
Ebenso wie bei dem Kalender insgesamt reduzierte Vater seine Eintragungen im Adressen- und Notizenteil hinten. Deutsche Angestellten-Krankenkasse, Frankfurt/Main, Goethestr. 11, Mitgliedsnr. 3.815 282. Dr. H. Heckmann, Worms, Dankwartstr. 9, Tel. 4209. Dr. med Karl Korsch, Mannheim. Wiederum Else Lympius, Berlin-Steglitz. Die Pension Sonnenfeld in München, von Dr. Schlögl empfohlen. Olga Sinnhuber in Düsseldorf und W. Waldbüsser in Frankfurt/Main.
Die Notizblätter, perforiert, von denen Vater eine ganze Anzahl herausgerissen hat, verzeichnen Medikamente – Hübraran, ein Mittel gegen Gallenbeschwerden, Ticarda gegen Bronchitis, Eupontl 3 × tgl. – aber auch das Buch Geist der Freiheit von Erhardt Ziegler.
Eberhard Zeller heißt der Autor, nicht Erhardt Ziegler, müsste ein Historiker korrigieren, ein Arzt, der 1952 eine erste große Studie über Claus von Stauffenberg, den 20.Juli, das Attentat auf Hitler veröffentlichte.
Gallenbeschwerden, Bronchitis, Bluthochdruck, Vaters Gesundheitszustand war nicht der beste. Er rechnete es dem Alter zu, in das er langsam hineinglitt, und dem schlechten Leben, das sie im Krieg und in der Nachkriegszeit führen mussten. Und überhaupt, die Geschichte hatte ihm wenig geschenkt.
Bei dem Merkbuch für das Jahr 1955 handelt es sich erneut um ein Werbegeschenk der Vereinigten Glanzstoff-Fabriken, dunkelblaues Kunstleder, Goldschnitt, kein Lesebändchen. Wie 1954 ist das Firmenlogo vorn aufgeprägt und scheint mit Ausrufezeichen zu verkünden: Glanzstoff!
Das schöne Wort, das als Metapher für die Poesie stehen könnte, an die man in der Bundesrepublik der frühen Jahre innig glaubte. Wenn man im Duden von 2000 nachschlägt,
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