Das Merkbuch
Nazigedanken, dass Deutschland neuen Lebensraum braucht, hegte er offenbar Sympathie. »Dafür spricht sein Roman ›Land aus Wasser und Feuer‹ (1939), in dem das deutsche Raumschiff ›St 25‹ mitten im Atlantik eine eben aus dem Meer aufgetauchte Insel entdeckt, die rein aus Magma zu bestehen scheint«, schreibt ein Literaturprofessor. Indem sein Kommandant »einen der dortigen Vulkane zu weiteren Lavaausbrüchen anreizt, verhundertfacht er schließlich die Größe dieser Insel, so daß am Schluß Scharen deutscher ›Erbhofbauern‹ fünf Millionen Hektar fruchtbarsten Bodens für die deutsche Kolonisation nutzen können.« 19 Den Roman überreichte ihm Onkel Alfred am 12. August als Mitbringsel, wie der Sohn verzeichnet hat.
Der Kapitän des Raumschiffs St 25, träumte der Sohn, heißt Nemo. Und das Raumschiff schaut aus wie die Nautilus. Fuhr James Mason mit seinem Traumschiff nicht gleichfalls immer wieder zu einer verborgenen Vulkaninsel mitten im Ozean?
Das ziemt doch einem Knaben, so die Psychoanalyse begütigend, der mit Mutter im selben Zimmer schläft: dass er sich fort auf einsame Inseln träumt. Was die Explosionen bedeuten, die das Eiland unermesslich vergrößern, darf jeder sich selber ausdenken.
Mutter führt den Adressenteil des Merkbuchs unauffällig korrekt; leicht findet man Parallelstellen im Adressenteil von Vaters Kalender, Hübners in Kassel, Charlotte Kosbab in Berlin, Erich Wertz in Korntal. Was im Zusammenhang ihrer Kulturinteressen auffällt, ist die Adresse der Goethe-Gesellschaft, Dr. A. B. Wachsmuth, Berlin-Dahlem, Postscheck Frankfurt a. M., 11 88 19. Das muss sie für den Mitgliedsbeitrag wissen; während sie Dr. Wachsmuth niemals schreiben wird – so wenig wie der Sohn an Eugen Berlin vom Schwanentaler Album oder den Sammlerdienst in Coburg –, weshalb die Straße und Hausnummer von Professor Wachsmuth in Berlin-Dahlem fehlen.
Unter den Wichtigen Daten – wo der Sohn die Vollendung der Raumstation Cola ebenso wie die Wahl zum Klassensprecher vermerkt – findet sich bei Mutter die Liste derer, denen zum Geburtstag gratuliert werden muss im Jahreslauf, vom 5. Januar, Friedel Goebel, bis zum 6. Dezember, Frau Hiller.
So schrieb es die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern vor. Die Männer widmen sich der Arbeit, die Frauen der Kommunikation.
Der Notizenteil bietet – bis auf jenes letzte Blatt mit den Schreibübungen – eine Bücherliste, eine Wunschliste, die der Lauf der Zeit hat entstehen lassen. Sie enthält Erika Manns Das letzte Jahr; Ingeborg Bachmanns Anrufung des großen Bären und Dorothy Sayers’ Geheimnisvolles Gift. Sie endet mit Sueton, Cäsarenleben.
Für die kommenden drei Jahre fehlen die Merkbücher von Mutter und Sohn. Vielleicht gingen sie verloren – vielleicht wurden keine geführt.
Kriegsangst, Todesangst. Sie hatten vom Schreiben erst einmal genug – das Schreiben war es, was sie in Angst, in Todesangst versetzte? Warum brach sogar der Sohn, der ein Diarium angefangen hatte, den Notizkalender ’56 ab?
Aber sie haben doch kaum was geschrieben. Wollte ins Kino gehen, im Garten gearbeitet, Vielliebchen gewonnen, 2 mal Sethe – ein bedeutender Leitartikler der Zeit, Paul Sethe, ein Kritiker von Adenauers Politik –, aber das erkrankte Gehirn, der Suezkanal, die Rote Armee in Budapest, Mutter und Sohn schweigen dazu.
Gleichzeitig fehlt es ihnen an Schreibstoff. Die Seiten der Kalender bleiben leer, weil Mutter wie Sohn sich verschließt, was sie erzählen könnten. Sie haben keine Puste. Epische Atemnot.
Oder lyrische. Das Datumsfeld bietet nur wenig Schreibfläche, kurze Gedichte wären das geeignete Genre, Haikus . . .
Deshalb nutzt Mutter, möchte man spekulieren, die Schreibfläche mehrerer Datumsfelder für die Abrechnung der Kartenspiele. Damit lässt sich mehr sagen über die Beziehungen in der Familie.
Aber sie will nichts sagen.
Die Darstellung der (Schreib- und) Sprachstörung mittels der herausgerissenen Seiten übertrifft man nur schwer durch einen Text.
Aber es fehlt die Absicht, die Intention, Mutter hat keine Ahnung, was sie durch das Herausreißen der Kalenderseiten vollbringt.
Everything is in your eye.
Vaters Merkbücher (so ihre Selbstbenennung) für 1957 und für 1958 und für 1959 stammen – wie die von Mutter und Sohn aus dem vergangenen Jahr – von M. Stromeyer, Goldschnitt, weißes Lesebändchen, schwarzes Kunstleder. Der Geber braucht nur eine einzige Seite, um das Werbegeschenk, hergestellt, wie
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