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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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Das war der Zweck der Operation: das Gebiet des Kanals okkupieren, damit er internationalisiert werden kann. Der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser hatte ihn verstaatlicht, sodass er diese zentrale Handelsroute kontrollieren und für politische Erpressungsmanöver gebrauchen könnte.

    Am 3. November beginnt Vaters Arbeitskapitel Julius Wagner, Hamburg.

    Zwischen dem 13-jährigen Sohn und der ungefähr 40-jährigen ungarischen Haushälterin von Tante entwickelte sich ein richtiges Politikgespräch. Der Sohn ließ sich darüber belehren, wieso der ungarische Ministerpräsident, der Naatsch gesprochen wurde, Nagy geschrieben wird; dass der kommunistische Verteidigungsminister Pál Maléter auf die Seite der Revolutionäre wechselte, machte ihn zu ihrer beider Helden; die verzweifelten Hilferufe, mit denen am Ende die Aufständischen über das Radio den Westen agitierten, blieben ihnen lange im Ohr – sie waren ja der Westen. Aber der Sohn gab nicht nach: Nein, eine Intervention der Westalliierten in Ungarn war ganz und gar unmöglich – es sei denn, man wollte den Dritten Weltkrieg.
    Die Intervention Israels, Frankreichs und Großbritanniens am Suezkanal war zwar militärisch erfolgreich, doch verweigerten die USA ihre Unterstützung, ja, gemeinsam mit der UNO verurteilten sie die Invasion; der militärische Erfolg ließ sich politisch nicht ausmünzen. Der elegante Premierminister Anthony Eden, den Mutter ebenso wie Vater und Sohn als würdigen Nachfolger Churchills anerkannten, wird zurücktreten, das elende Ende einer langen Karriere. Die Historiker erkennen in der Suez-Krise von 1956 den letzten Versuch des Vereinigten Königreiches, sich als Weltmacht durchzusetzen; ein Versuch, der scheiterte. Die neuen Weltmächte waren die USA und die SU .
    Hätten Großbritannien und Frankreich, wiederholte Frau Molnar immer wieder in ihrer weichen, klagenden Art, auf die Invasion Ägyptens verzichtet, die Westmächte hätten das Versprechen, das ihr Propagandasender in Osteuropa verbreitete, eingehalten und die Sowjetunion an der Besetzung Ungarns gehindert. Der Westen hätte dem Aufstand zum Erfolg verholfen – der Sohn konnte nur den Kopf schütteln über die Unbelehrbarkeit von Frau Molnar.
    Kriegsangst herrschte im Herbst ’56, Weltkriegsangst. Ein kalt brennendes Gefühl im Brustraum, nahe an Atembeschwerden. »In den Abendlärm der Städte fällt es weit«, schrieb ein Dichter. »Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit, / Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis. / Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.« 18 Tante holte den verbotenen Armeerevolver unter ihren Wäschestücken hervor, nahm ihn gut versteckt mit in den Wald und probierte, ob sie, sollte der Iwan unsere kleine Stadt endlich doch noch erobern, damit ihren Schädel durchlöchern könnte, an einer Fichte aus, pfetsch, pfitsch.
    Vater schimpfte auf den feinen Herrn Eden, der uns in dies ägyptische Abenteuer gestürzt habe. Zu Ungarn und zur Sowjetunion fiel ihm nichts ein. So läuft das eben, man kannte es vom 17. Juni 1953 in der DDR ; im Juni ’56 hatte die polnische Armee in Posen einen Arbeiteraufstand niedergeschlagen. Im Übrigen saß Vater, wenn er nach Hause kam, in der leeren Wohnung und rauchte seine vielen Zigaretten, die dann als kalter Dunst in den Räumen stehen blieben.

    Am 7. November ist er in Frielendorf, am 9. November in Neukirchen, Kreis Ziegenhain. Am 14. November ist er in Ottrau, Kreis Ziegenhain, und das Notizenfeld füllen die Angaben, wie man auf komplizierten Wegen um 21.07 Uhr dort landet, wenn man um 18.04 Uhr zu Hause abreist (viermal umsteigen). Am 20. November ist Vater in Oberaula – im Notizenfeld sind gleich drei Zugverbindungen von hier nach dort verzeichnet. Keine kleinen Rechnungen. Am 29. November ist Vater in Niederaula, am 3. Dezember in Asbach, Kreis Hersfeld, und am 4. Dezember wieder in Neukirchen. Am 6. Dezember in Schenklengsfeld; am 9. Dezember verzeichnet er nach Darmstadt (und drei Zugverbindungen von hier nach dort füllen das Notizenfeld aus, eine winzige, sorgfältige Handschrift).

    Am 22. Dezember fährt Vater für die Weihnachtstage nach Hause, und am 27. Dezember, wie er schreibt, nach Darmstadt zurück.
    Für den ganzen Zeitraum fehlt, wie gesagt, im Merkbuch des Sohnes jeder Eintrag. Ebenso im Merkbuch von Mutter – aber die Seiten zwischen dem 24. Oktober und dem 15. November sind herausgerissen.

    Irgendwann im Spätsommer – vielleicht am 11. September, als der

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