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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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er sich betätigte; so stiftete er das Heimatdenkmal am Markt. Salzmann & Comp. betrieben Textilproduktion – im Zweiten Weltkrieg verdienten sie tüchtig mit Militärzelten, Uniformen, Tornistern, Postsäcken, Mänteln und wurden entsprechend bombardiert.
    Der Höllengestank, die Wickelschlacken, womöglich Zechstein . . . Aber wenn Vater von Salzmann & Comp. mit Schadenfreude erzählte, dann kam das von dem Missmanagement – damals kein gebräuchliches Wort –, das die Firma, wie Vater triumphierte, bald in den Bankrott steuern werde.
    In der Fachliteratur, könnte ein Soziologe erzählen, diskutiert man Salzmann & Comp. als kanonisches Beispiel, wie der Nepotismus eine glorreiche Firma aus dem 19. Jahrhundert zerstört. Brüder und Schwestern, Vettern und Cousinen, ja Schwiegersöhne und -töchter fanden sofort ein Plätzchen in der Firmenleitung. Sie wollten mitreden und mitbestimmen und dabei hübsch verdienen – und so verwandelte sich jede Diskussion über innerbetriebliche Umstrukturierung, über die Erweiterung der Produktpalette, über Exportstrategien sofort in Familienkrieg. Das Betriebliche wurde das Persönliche und damit unlösbar, Britta und Georg, Hannelore und Lothar, Martha und die Häberles, Wilhelm und die Rincks. Die Bundesrepublik, sagt die Fachliteratur, musste sich von diesem Typ Familienbetrieb lösen, um wirtschaftliche Erfolge zu erzielen.
    Dies alles wäre erzählenswert, aber Vater wieder verzichtet darauf.
    Nein, Vater erzählt es, erzählt es mündlich, am Mittags-, am Abendbrottisch, bei den Spaziergängen im Tal. So prägte es sich dem Sohn, so prägte es sich den Angehörigen ein. Das Schreiben ist es, worauf Vater verzichtet. Kein Eintrag wie: 16.00, Kaffee in der Salzmann-Kantine, Luise Rinck wütend über Georgs Angriff auf Südamerika; nichts erreicht.
    Vater kennt Luise Rinck persönlich so wenig wie die anderen Bewohner der Chefetage. Deshalb kann er keine persönlichen Treffen mit ihnen im Merkbuch verzeichnen. Vater verfügt über sehr wenig soziales Kapital, Beziehungen nach oben, mittels deren er an erstklassige Informationen käme und Einfluss nehmen könnte. Was er zu Hause von Henschel oder Salzmann erzählt, ist Hörensagen aus dem Büro, was die kleinen Angestellten untereinander über die Majestäten kommunizieren.
    Wir stellen uns vor, wie Georg Salzmann oder Martha Häberle durch ihr Reich schreiten und ignorieren, welcher kleine, alte, dicke Mann da über seinen Akten sitzt. Er grüßt, und sie nicken hoheitsvoll zurück, aber das macht sie nicht miteinander bekannt. Diese Ignoranz für erzählenswert zu halten wäre eitel; dieser Eintrag muss wegfallen: Heute gegen 18 Uhr wieder mal vom stellvertretenden Generaldirektor Salzmann übersehen worden – davon gibt es fünf, sodass ich eine realistische Chance auf vier weitere Nichtbegegnungen mit den Majestäten habe.
    Wir fänden Büroromane, die solche Szenen genau entwickeln.

    »In den Büroetagen war es an diesem Tag noch stiller als sonst. Bis zum Frühstück war noch ein bißchen gearbeitet worden – mit gezierten Bewegungen. Man saß steil auf dem Stuhl und befleißigte sich einer sauberen Handschrift. Beim Frühstück erinnerte man sich seiner guten Tischmanieren. Einige Damen waren beim Friseur gewesen.
    Nach dem Frühstück erstarb jede Tätigkeit. Man trommelte auf die Schreibtischplatte, man sah auf die Uhr. Wenn die Tür aufging, erschrak man. Wer wußte eigentlich, wie Herr Tülle aussah?
    Zehn Uhr. Frau Volz kam aus dem Sekretariat gestürzt. Sie lief den Gang entlang und rief überall durch die geöffneten Türen:
    ›Er ist da. Er ist eben am Hauptportal.‹« 20

    Aber für Vater wäre einen Roman zu schreiben ganz undenkbar. Wäre ein absurder Vorschlag. Damit sich in dem Merkbuch auch nur einzelne Worte fänden, die romanfähig wären, müsste sich Vater einen ganz anderen Leser vorstellen als die Vorgesetzten, die sein persönlicher Geschäftsbericht als implizite Leser imaginiert – und im Lauf der Jahre immer schwächer imaginiert, wie der Ausfall des täglichen Eintrags und der Firmennamen lehrt.
    Und dabei war Vater, der keine Kontakte zu stellvertretenden Direktoren und anderen Majestäten verzeichnet, kein Gefangener von seinesgleichen, eingesperrt ins Reich der kleinen Angestellten. Da gibt es Dr. Schlögl, von dem er Geld leiht, wie er verzeichnet; es gibt Dr. Heckmann, mit dem er zusammenarbeitet; es gibt Kui, den angehenden Millionär, den er anpumpt, dessen Kindern er Geld- und

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