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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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andere Geschenke macht.
    Und diese Berührungen mit oben führten, wie wir sahen, immer zu Schrift.

    Das Jahr 1957 schreitet fort mit diesen kleinen Ortschaften, die, wie Sontra, am Rande der Geschichte zu liegen scheinen. Am 28. Januar arbeitet Vater im Kornhaus Adorf in Waldeck. Am 31. Januar bei Markl in Neudorf. Am 2. Februar bei Raiffeisen in Volkmarsen. Am 5. Februar heißt es bloß Zierenberg und am nächsten Tag Niederelsungen. Am 8. Februar Netze, Kreis Waldeck; der Ausfall der Firmennamen fällt weiterhin auf.
    Zwar dauern im nächsten Jahr die Prüfungen von Olivetti in Frankfurt bis Mitte März, aber dann ist Arolsen dran, noch so ein ortloser Ort. Vater wiederholt bis zum 3. April 1958 die Ortsangabe Arolsen – am 18. März lasen wir Spinnerei Zedlitz.
    Vater nimmt F. Zedlitz – irgendwann lernen wir, dass er mit Vornamen Ferdinand heißt – in den Adressenteil seines Kalenders auf, was bedeutet, dass sich der Kontakt von einer Geschäfts- zu einer Freundschaftsbeziehung entwickelt, vgl. Erich Wertz, Korntal.

    Arolsen legten ab 1719 die Fürsten von Waldeck (zu dem Gebiet gehört der Edersee) und Pyrmont planmäßig als ihre Residenz an. Ein ehemaliges Kloster wurde zum Barockschloss umgebaut, wobei eine Anlage entstand, die der Stadt Arolsen bis heute ihr Gepräge gibt. – Zedlitz ist der Name einer umfangreichen und weitverzweigten Familie, die ihren Ursprung in Schlesien hat; wie der Spinnerei-Besitzer Ferdinand Zedlitz in Arolsen 1958 zu ihr gehört, ist unklar.
    Er fuhr riskant Auto, mit Gusto schnitt er vollkommen unübersichtliche Kurven, wobei seine Frau lüstern quietschte. Ihre Wohnung lagerte sich im Gedächtnis des Sohnes als schlossartig ab, große Räume öffnen sich mit großen Fenstern auf das Grün des großen Gartens, dunkle Blätterschatten und helle Wasserreflexe spielen auf weißen oder altrosa Wänden – irgendwann verbrachte der Sohn ein paar Sommertage bei diesem Ehepaar Zedlitz, auf feine und vornehme Art außerordentlich höfliche und freundliche Leute (wie sie in unserer kleinen Stadt fehlten) – zuweilen argwöhnte der Sohn, Ferdinand Zedlitz sei ein Hochstapler und Betrüger (und Vater komme ihm beim Prüfen der Bücher eben gerade auf die Schliche). Schmackhafte Mahlzeiten mit leicht unbekannten Gerichten; ein Nachmittag im Freibad, wo der Sohn ein Buch von Martin Buber zu lesen versuchte, Gog und Magog, aber seine Gedanken weilten bei den Mädchen dort drüben, auf der Wiese, mit denen er sich unbedingt bekannt machen sollte, jetzt, jetzt gleich.
    Mutter verbrachte ebenfalls Ferientage bei den Zedlitzens. Sie äußerte Verliebtheitsgefühle gegenüber Arolsen. Man weilt wie in Grimmburg, lautete ihre Lobesformel. Man weilt im Roman.

    »Die Grimmburg beherrschte von einem buschigen Hügel das malerische Städtchen des gleichen Namens, das seine grauen Schrägdächer in dem vorüberfließenden Stromarm spiegelte und von der Hauptstadt in halbstündiger Fahrt mit einer unrentablen Lokalbahn zu erreichen war.«
    »Die Stadt war Universität, sie besaß eine Hochschule, die nicht sehr besucht war und an der ein beschauliches und ein wenig altmodisches Gelehrtentum herrschte; – einzig der Professor für Mathematik, Geheimrat Klinghammer, genoss in der Welt der Wissenschaft bedeutenden Ruf . . . Das Hoftheater, wiewohl kärglich dotiert, hielt sich auf anständiger Höhe der Leistung . . . Es gab ein wenig musikalisches, literarisches und künstlerisches Leben . . .« 21

    Oben geht es ärmlich zu, das tröstet den Aufsteiger. Bei den Zedlitzens ging es nicht fürstlich zu, aber es herrschte diskret ein geschmackvoller Luxus – den man als Indiz adliger Abkunft lesen kann. Flüchtlinge aus Schlesien vielleicht, die ihr Rittergut an der Weichsel verloren und im Westen eine neue Existenz aufbauten; intelligent vor dem Krieg im Ausland deponiertes Vermögen, die staatlichen Zahlungen durch den so genannten Lastenausgleich halfen ihnen auf. In die Mythologie der Bundesrepublik ging das Adelsgeschlecht derer zu Dohna ein, die, von ihren Latifundien in Ostpreußen vertrieben, in Westdeutschland ein Unternehmen der chemischen Textilreinigung aufbauten, mit vielen Filialen in vielen Städten.
    Es gelang Vater also, Freundschaft mit einem Kunden seiner Firma aufzubauen, Unternehmer, von adliger Abkunft, und Mutter und Sohn profitierten davon, unmittelbar, durch schöne Tage in Arolsen, dunkle Blätterschatten auf altrosa Mauern, nackte Mädchen im Grünen, unbekannte Speisen,

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