Das Merkbuch
Sohn die Aufzeichnungen vollständig abbricht – ereilt die Familie ein schweres Unglück, eine Gesundheitskatastrophe.
Der Sohn erwacht mitten in der Nacht, weil Mutter ein Stöhnen von sich gibt – noch einmal – noch einmal. Ein Stöhnen oder Schreien – noch einmal. Das ihn aufgeweckt hat, aber jetzt weiß er nicht, was er tun soll, aber es muss was geschehen. Er stürzt aus dem Bett.
Die Wohnung, die sie letztes Jahr bezogen haben, als sie das Haus am Wald endlich verlassen durften, besteht nur aus zwei Zimmern und der Küche. Wenn man eine halbe Treppe hinuntergeht, erreicht man ein Badezimmer, das man sich freilich mit einer zweiten Familie teilt. Doch gibt es, wie Mutter nach dem Umzug immer wieder loben muss, überall fließendes Wasser in dem Haus, das am Rande unserer kleinen Stadt an dem Hang liegt, den sie hinauf gebaut ist. Alle Wege – zum Bahnhof, zum Einkaufen, zur Vereinigung mit den Genossen – verkürzt die neue Lage.
Das Wasser fließt im Haus; der Verkehr der Leute im Haus mit den Leuten außerhalb des Hauses fließt schneller.
Vater steht schon am Bett der stöhnenden, schreienden Mutter. Er kam aus dem Zimmer nebenan, das als Wohn- und Esszimmer dient und wo auf der Couch ein Bett für ihn aufgeschlagen worden ist.
Das Stöhnen und Schreien geht weiter, anfallsweise, während Vater und Sohn erschrocken, entsetzt, gelähmt am Bett von Mutter stehen. Es ist Angst, sagt Mutter zwischen den Anfällen, Angst. Bald verquillt unverständlich, was sie zu sagen versucht. Der Sohn kann es nicht fassen.
Vater ist endlich wieder bei sich und geht zum Telefon im Wohnzimmer – Nummer 434 – und ruft den Hausarzt an. Natürlich kommt der, mitten in der Nacht, erst viel später, viel zu spät. Und der Krankenwagen, den der Hausarzt gleich bestellt, braucht, um zu kommen, eine Ewigkeit, die Sonne geht auf, der Tag bricht an, der Sohn bricht auf zum Bahnhof: wie jeden Tag mit dem Zug in die Schule. Vater hat, wie sein Merkbuch ausweist, am 11. September Urlaub.
Aber der Sohn wird bei Tante einquartiert, in dem großen, alten Haus am Markt. So war das schon öfter, wenn Mutter wegmusste, Anfang des Jahres beispielsweise ins Krankenhaus, wie wir gelesen haben. Vater traut sich nicht zu, einen kleinen Jungen zu betreuen und zu versorgen.
Man erwartet, dass er als Mann außerstande ist, einen Knaben so zu betreuen und zu versorgen, wie eine Frau es vermag. Vater könne Mutter unmöglich ersetzen, für keine Stunde. So dachte unsere kleine Stadt, so dachten weitere und höhere Kreise.
Die Seiten zwischen dem 24. Oktober, Mittwoch, und dem 15. November, Donnerstag, die Mutter später aus ihrem Merkbuch herausreißt, enthalten gewiss keine ausgeschriebene Geschichte dieser Monate. Auf der ersten, wieder erhaltenen Seite erkennt man auf dem Notizenfeld unterhalb des 17. November, Sonnabend, einen Bleistiftkringel, der wie der Teil eines Schriftzuges ausschaut.
Von hier aus erkennt man auf den erhaltenen Seiten ähnliche Kringel, farblos, durchgedrückt: Mutter übte auf den Seiten, die sie später rausriss, das Schreiben, und wollte später nie wieder sehen, wie das ausgesehen hatte.
Ein Dichter, der eine schwere Erkrankung des Gehirns darstellen wollte, könnte es nicht besser machen. Den Notizkalender, weil er zu Händen ist, einfach als Schreibfläche benutzen, um herauszufinden, ob Schreiben überhaupt geht, ob man es wieder lernen kann. (Als einfache Schreibfläche funktionierte das Merkbuch ja schon bei Mutters Canasta- und den anderen Abrechnungen.) Die Seiten herausreißen, auf denen das kranke Krakeln stattfand. Das jedoch farblose Abdrücke hinterließ.
Als der Sohn an diesem Tag nach der Schule an das Krankenbett trat, das Mutter in einer Privatklinik von Melsungen belegte, verstand er nicht, was sie ihm sagte, verwaschene Laute. Mutter, 48 Jahre alt, war auf der linken Körperseite gelähmt, wissen sie später. Und noch später wissen sie, dass man die Störung in Mutters Gehirn Aneurysma nennt, die mit Blut gefüllte Ausbuchtung einer Arterie. Sie kann platzen und Mutter töten. Oder sich zurückbilden.
Am Abend des Tages, als sie ihn ins Bett bringt, fragt Tante, ob er beten möchte. Der Kirchgang gehörte nicht zu ihren Routinen – bei denen sie sich im Übrigen eng an die Vorschriften unserer kleinen Stadt hielt.
Aber wir befinden uns im neochristlichen Westdeutschland der fünfziger Jahre, das Beten gilt als anerkanntes Trostmittel in katastrophalen Lagen. Gewiss erinnert
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