Das Merkbuch
Jugoslawien diplomatische Beziehungen auf, und Vater hat viel zu spotten, als die Bundesrepublik Deutschland, der Hallstein-Doktrin folgend, die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien abbrach. Sein alter Freund Kui hatte einen Sommer dort mit seiner Frau und den Kindern Ferien gemacht – kein Vergleich mit dem Gardasee, das Essen, der Wein, die bäurischen Kellner, die schlichten Hotelzimmer. Der Sozialismus ist ärmlich. Aber dass wir deshalb gleich den Botschafter abziehen müssen . . . Gelächter.
So ging es in die Frühgeschichte der Bundesrepublik ein. Der frisch entstehende Massentourismus widmete sich Jugoslawien, weil Italien zunächst zu teuer war für den kleinen Angestellten. Aber sie räsonierten darüber, wie diese Seite des Mittelmeers sehr zu wünschen übrig ließ.
Freilich war dieser Kui doch gar kein kleiner Angestellter mehr, vielmehr auf dem Weg zu seiner ersten Million.
Am 1. November 1957 findet man in Frankfurt am Main Rosemarie Nitribitt, 24, erwürgt in ihrer Wohnung. Ein Callgirl – das Wort verbreitete sich von hier aus im deutschen Sprachgebrauch –, eine teure Prostituierte mit reichen und mächtigen Kunden. Die vollständige Aufklärung des Mordes misslingt.
Es entsteht ein Roman, in dem man nach Belieben alle Reichen und Mächtigen Westdeutschlands auftreten lassen konnte. Irgendwie sind sie doch alle verwickelt. Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass es Reiche und Mächtige in der Bundesrepublik gibt. Sie besteht nicht nur aus den kleinen Angestellten. Vater und sein alter Freund Kui führten saftige Männergespräche, welche Freuden die Nitribitt ihren Kunden für das viele Geld schenkte; was alles dem Sohn, 14 Jahre alt, beim Zuhören kräftig einheizte, umso mehr, als er sich die Körpervorgänge nicht richtig vorstellen konnte. Das Eiland, das sich explodierend unermesslich vergrößert.
Erst seit Rosemarie Nitribitt, könnte man den Eindruck gewinnen, gibt es in der Bundesrepublik offiziell Sexualität. Aber im Ernst: Die Fama, die der Mord auslöste, gehört zur Vorgeschichte der sexuellen Revolution, die in den sechziger Jahren die Verhältnisse umwälzte.
Was immer noch im Vordergrund lärmt, das ist die Todesangst, Kriegsangst. Dass sie so traurig, so verstimmt ausschauen, die kleinen Angestellten bei Vaters Betriebsfest, dass es ihnen so gar keine Freude macht, der Kuchen, die Alkoholika, die üppigen Fleischspeisen, das macht die Erwartung des nächsten Krieges, der sie alle vernichten wird.
Am 7. März 1958 gründet sich das Komitee Kampf dem Atomtod. Vom 4. bis 7. April findet von London ausgehend der erste Ostermarsch gegen die Atombewaffnung statt, ungefähr 10 000 Teilnehmer versammeln sich bei der Abschlusskundgebung in Aldermaston. Am 19. April veranstaltet das Komitee Kampf dem Atomtod in verschiedenen deutschen Städten Kundgebungen. Mutter und Vater und Sohn leben zu weitab, um sich zu beteiligen – ohnehin liegt ihnen so etwas fern –, aber Vater und Mutter begleiten mit Wohlwollen, dass der Sohn an den Ostermärschen und den verwandten Aktivitäten samt seinen Freunden ein so starkes Interesse nimmt; keine Spur der Kriegsbegeisterung, die Vater 1914 erfüllte. Auf die jungen Leute ist Verlass; sie werden eine neue Welt schaffen.
Die Todesangst, die Kriegsangst fließt aus der deutschen Frage, wie man damals sagte. Im März 1958 schlug der Bundeskanzler der SU vor, der DDR Neutralitätsstatus zu verleihen, wie sie ihn der Republik Österreich gewährt hatte. Das erörterten Vater und Sohn mit Behagen; Neutralität wäre für die BRD ebenfalls gut: raus aus der Weltgeschichte und den Weltkriegen.
Am 2. Juli verlangt der Deutsche Bundestag, dass die vier Mächte – die Alliierten gegen Hitlerdeutschland – ein Gremium bilden, das die deutsche Frage auf höchster Ebene in Angriff nimmt. Am 4. September fordert die DDR in Noten an die Bundesregierung und die vier Mächte, eine Kommission zu bilden, die einen Friedensvertrag mit Deutschland vorbereitet. Am 10. November kündigt der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow bei einer Kundgebung in Moskau an, dass die SU Ostberlin der DDR unterstellen, also der Kontrolle der Westmächte entziehen werde. Westberlin soll eine entmilitarisierte freie Stadt werden – die reißt er sich doch gleich unter den Nagel, so Vater, wie Hitler damals Danzig.
Am 8. Januar 1959, Donnerstag (Vater prüft wieder die Bücher der Einfuhr- und Vorratsstelle Zucker in Frankfurt am Main und logiert bei Müller in
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