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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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Augenblick lang. Abends durch München schlendern in Erwartung von Erna Freiberger. Die eigenhändig ihren Namen und ihre Adresse in Vaters Merkbuch schreiben durfte.

    Zerfällt jetzt, in diesen Jahren, in denen er der Rente entgegenlebt, das Merkbuch als Arbeitsroman, als persönlicher Geschäftsbericht? Er schreibt die Geburtstage von Angehörigen hinein; er schreibt die Orts- statt der Firmennamen hinein.
    Das Merkbuch 1959 ist ab dem 18. August, Geburtstag Else Lympius, leer. Der letzte Eintrag davor ist Flörsheim, 13. August, Donnerstag. Und am 3. August, Montag, heißt es Dr. Heckmann, Weinheim. Das Arbeitskapitel Flörsheim scheint also überhaupt nicht zu enden; dass ein Arbeitskapitel Dr. Heckmann, Weinheim, bis zum 13. August, bis Flörsheim reicht, kann man nur schlecht glauben: Vater führt, so muss man folgern, die Aufzeichnungen über seine Arbeit nicht mehr mit der gewohnten Disziplin durch. Mit den Lympius-Geburtstagen beginnt keine neue Disziplin: Die Geburtstage der Hübners, von Onkel Alfred und Tante Erika tauchen nie auf.

    Am 21. Juni 1957 verzeichnete das Merkbuch Betriebsfest, und am 22. Juni fand, wie Vater schrieb, eine Revisorenversammlung statt.
    Im Familienalbum entdeckt man Fotos, auf denen man Vater bei einer Veranstaltung sieht, die als Betriebsfest identifiziert werden kann. Vater sitzt – dunkler Anzug, weißes Hemd, Schlips – mit anderen korrekt gekleideten männlichen und weiblichen Kollegen im Freien um einen runden Tisch, unter dunkelfarbenen (roten oder blauen) Sonnenschirmen mit hellen Punkten. Eine Terrasse, von der man in eine Landschaft blickt. Da stehen mehrere solcher Tische, dicht besetzt, eine große Gesellschaft. Vor einem steht eine Kellnerin im historischen Kostüm, man denkt an Burgfräulein, also ein folkloristisches Betriebsfest, weiter draußen.
    Keines der Fotos zeigt eine signifikante Situation. Man sitzt herum, Teller mit Kuchen stehen auf den Tischen, aber niemand langt zu. Einige Frauen wenden sich um und schauen in die Kamera. Es scheint kalt zu sein: Die Frauen haben ihre Mäntel übergehängt – womöglich will es regnen. Wer möchte, kann behaupten, sie sehen traurig aus, die Angestellten, keine Spur Festlaune, die sie zu zeigen hätten, voller Dankbarkeit gegen die Firma.
    Mühelos erkennt man Vater auf den Gruppenfotos – unverständlich ist, womit er sich beschäftigt. Er hält einen kleinformatigen Gegenstand in der linken Hand und hat die rechte knapp darüber erhoben: Vielleicht eine Zigarettenpackung, auf der Vater den Tabak einer Zigarette festklopft? Eine verloren gegangene Geste – aber das lässt sich unmöglich klären.
    Auf einem anderen Foto, das dieselbe Situation zeigt, dreht Vater sich auf seinem Stuhl halb um und scheint, lächelnd, mit einem Kollegen zu sprechen, von dem man meinen darf, er habe jenen kleinformatigen Gegenstand in die Hand genommen und studiere ihn sorgfältig. Es wäre also keine Zigarettenpackung; vielleicht ein Foto, das Vater an ihn weitergereicht hatte, mit einem humoristischen Kommentar – aber es bleibt unmöglich, den Sachverhalt zu klären.
    Ein drittes Foto zeigt Vater im Profil, die Harry-Truman-Frisur ist genau zu erkennen, im Hintergrund die Kollegen. Vaters dunkler Anzug (Heinrich Hupfeld, Elbersdorf) hat feine Nadelstreifen (was auf den Gruppenfotos unsichtbar blieb), was unmissverständlich die Teilnahme an einem festlich-offiziösen Ereignis signalisiert.

    Das Betriebsfest dient 1957 nicht einfach der Geselligkeit, der Unterhaltung, dem Wohlbefinden der Angestellten. Vielmehr handelt es sich um ein Ritual, das die Firma selber zu einem Objekt der Verehrung erhöht.
    Vater im dunklen Nadelstreifenanzug, die Haare frisch geschoren, zündet sich auf dem Foto eine lange Zigarre an. In der rechten Hand hält er das Streichholz – die Hand verdeckt es –, in der linken das Rauchwerk, dessen anderes Ende in seinem Mund steckt und an dem er saugt, damit der Tabak Feuer fängt. Vater schaut tiefernst aus, hingegeben an den Akt.
    Der ein Element des betrieblichen Rituals ist. Chefhaft in dunklen Nadelstreifen gekleidet, darf sich der kleine Angestellte zur Feier des Tages eine Zigarre anzünden – eine Gabe der Firma, so wie der Kuchen, der auf den Gasthaustischen steht. Wie die Alkoholika, die Fleischspeisen, die die Firma an diesem Abend auffahren lässt. Mittels der Firma feiert die Bundesrepublik sich selbst – und die traurigen Gesichter der Angestellten, ihre Verstimmung, zeigen, dass das noch

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