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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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Ja, schrecklich, die Geschichte der Sowjetunion, die armen Russen – vielleicht wird es jetzt besser? Vielleicht geht es jetzt aufwärts? Aber dass sie den armen Pasternak zwingen, den Preis zu verschmähen, das ist kein gutes Zeichen . . .
    Der Film (1965), immerhin von dem großen David Lean, könnte der Kinogeher klagen, ließ sehr zu wünschen übrig (kein Vergleich mit David Leans Lawrence of Arabia). Allein die furchtbaren Perücken, klagte Mutter lustig – dabei hat der Omar Sharif so schönes Haar (wie man in Lawrence of Arabia sieht).
    Mutters Notizkalender für 1960 fehlt, dafür aber sind diejenigen von Vater und Sohn überliefert.
    Vaters Kalender stammt wieder von Kohlenstromeyer, das Werbegeschenk. Keine Veränderungen im Format oder auf der ersten Seite, mit den Angaben über den Spender, Lagerhausgesellschaft, Hauptverwaltung Mannheim – nur ist natürlich die Jahreszahl 1960 neu. Nebeneinander gestellt, ergeben die Kohlenstromeyer-Kalender eine niedliche Miniaturbibliothek.
    So fragt man sich, ob die Außenhülle wirklich aus Kunst- oder womöglich die ganzen Jahre schon aus echtem Leder besteht. Die Frage scheint sich zu beantworten, wenn man an der Außenhülle riecht – ganz leicht meint man obendrein Tabakrauch wahrzunehmen.
    Den Kalender des Sohnes umhüllt unzweifelhaft Kunstleder, beige. Das Büchlein ist in ein Mäppchen eingeklebt, dessen linke Innenseite ein Gefach für kleinformatige oder eng zusammengefaltete Zettel offeriert – tatsächlich stecken welche drin. Auf dem Gefach liest man eingeprägt Baur & Horn, der Spender des Werbegeschenks. Der jede weitere Mitteilung über sein Metier, seine Produkte, seinen Standort unterlässt.

    Ein sehr gut eingeführtes, traditionsreiches Geschäft von rein lokaler Reichweite, möchte man spekulieren, das darauf setzt, dass jeder weiß, wer Baur & Horn ist. Die Diskretion steigert den Wert, die Bedeutung. Die Diskretion erzeugt eine In-Group, die Baur & Horn kennt – und scheidet eine Out-Group aus, die keine Ahnung hat. Gewiss keine Lagerhausgesellschaft für Kohle und andere Brennstoffe, die Filialen überall in Westdeutschland betreibt.

    Kassel, möchte man spekulieren, jeder kennt Baur & Horn, ein exklusives Fachgeschäft für Lederwaren. 1875 taten sich der Gerbermeister Otto Baur, aus Klagenfurt gebürtig, und der einheimische Kaufmann Friedrich Horn zusammen und eröffneten ihr Geschäft für feine Lederwaren in der Unteren Königsstraße, das hier seitdem unverändert aushält, durch alle Zeitläufte hindurch.
    Was in Kassel unter den bürgerlichen Käufern feiner Lederwaren ein spezielles Kapital bildet. Spinnfaser, Henschel, die Innenstadt fielen in Schutt und Asche, aber Baur & Horn verkörpert hartnäckig die Dauer, die longue durée . . .

    Außen besteht die Mappe, in die der Kalender von Baur & Horn eingeklebt ist, aus einem glatten, dunkelblauen Material, von dem man gern glauben würde, es sei Echtleder. Die Fortschritte der Plastikwelt.
    Auf der Steckbrief-Seite – wie bei Kohlenstromeyer Persönliches überschrieben – notiert der Sohn in Druckbuchstaben seinen Namen, die Adresse, die Telefonnummer, immer noch 434. Geändert hat sich der Name der Straße.

    Druckbuchstaben sind offiziös. Die Schrift will von Zweiten und Dritten gelesen werden – nicht bloß vom Autor – und jedes persönliche Merkmal abgestreift haben. Der Autor will sich Zweiten und Dritten präsentieren mit einer nichtssagenden Schrift – damals, 1956, misslang sie ihm noch gründlich.

    Der neue Straßenname findet sich schon in Vaters Merkbuch für 1958: Die Wohnung war unbedingt zu verlassen, in der das Unglück mit Mutters Gehirn sich ereignete. Das Unglück durchdrang die Räume restlos, stank aus den Wänden.
    Sie lag endgültig im Tal, die neue Wohnung. Und der Sohn verfügte zum ersten Mal über ein eigenes Zimmer. Jedenfalls im Sommer – das Zimmer war nicht heizbar und verbot sich im Winter als Aufenthaltsort.
    Den größten Vorteil aber bot die neue Wohnung durch ihre Nähe zum Bahnhof. Vater und Sohn benötigten höchstens zehn Minuten; und sie mussten keinen Hang hinauf (und hinunter), sie bewegten sich in der Ebene. Der alte Vater und der junge Sohn genossen die Erleichterung.
    Man kann es wieder unter sozialem Aufstieg verbuchen. Jetzt steht Wohnraum in größerem Umfang zur Verfügung; die vielen Neubauten, mit denen unsere kleine Stadt ihr Gebiet ununterbrochen ausdehnte. Das Deutsche Reich wird als Bundesrepublik Deutschland

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