Das Merkbuch
Stippvisite bei Thomas Mann. So etwas vermehrt das soziale und kulturelle Kapital, auch wenn es ohne Nutzen für Vaters Karriere ist. 1958 wird er 65 und Rentner.
Ende Februar 1957 verzeichnete er Uschlag, kein Firmenname. Am 3. März hieß es Darmstadt und bedeutete vermutlich Röhm & Haas, das Plexiglas. Das dauerte – zwischendurch war er immer wieder zu Hause – bis zum 15. April, da ging es wieder zu Salzmann & Comp. nach Kassel, was mit Bleistift vermerkt wurde. Die kleinen Rechnungen fehlen – sieht man von der Sonntagsrückfahrkarte Kassel–Frankfurt ab, die am 18. April, Gründonnerstag, vermerkt ist und mit Zuschlag 32.50 kostet.
Warum fehlen die kleinen Rechnungen? Muss Vater sich wegen seiner Einkünfte keine Sorgen mehr machen, sodass er unbedenklich Krawatten, Schokolade, Briefmarken, Thomas Mann kaufen kann, ohne sich andauernd Rechenschaft ablegen zu müssen? Sodass der Stolz, das Selbstgefühl ausfällt, womit die riskanten Ausgaben Vater erfüllten?
Am 29. April 1957 verzeichnete Vater Hommelwerke, Mannheim, was bis zum 6. Juni andauert, am 6. Mai schreibt Vater Wegener zur Aufbewahrung DM 300. Dann herrscht Schweigen bis zum 28. Mai, an dem Stromeyer geschrieben steht.
Am 29. April 1958 schreibt Vater Wetzlar und am 2. Mai Arolsen, was bis zum 11. Mai dauert, da gilt wieder Hommelwerke, Mannheim, und am 14. Mai erhält Wegener 100, der Inhaber der Pension Wegener, die der Adressenteil immer wieder aufführt, Mannheim, Heinrich-Lanz-Str. 34, Telefon 44988.
Die Telefonnummern werden länger, weil immer mehr Bürger der Bundesrepublik ein Telefon besitzen; der soziale Aufstieg.
Wo Vater am 2. Mai 1959 die Bücher prüft, ist unklar; seit vielen Tagen bleiben die Datums- und die Notizenfelder leer. Der letzte Eintrag fand am 16. Februar statt, Flörsheim lautet er, und es folgt ein unleserlicher Firmenname.
Dauert Flörsheim wirklich bis zum 11. Mai, an dem Vater nach Hause fährt, um am 15. Mai nach Orb zu reisen, Bad Orb im Spessart, keine Prüfung, sondern eine Kur? Bohnenschalentee, verzeichnet der Notizenteil des Merkbuchs 1959, drei Teelöffel überbrühen, 15 Minuten ziehen lassen. Pinimenthol gegen Erkältung. Mediocard für Kreislauf. Tabak Oldenkott, Altgold Kiepenkerl.
Dass Vater unter vielfältigen Beschwerden litt, schien dem Sohn, der 1958 sein 15. Lebensjahr erreicht, angemessen: So ziemt es sich für einen alten Mann. Deshalb verlor der Sohn rasch aus der Erinnerung, dass Vater wegen dieser Beschwerden eine Kur machte. Den Angehörigen dagegen prägte es sich tief ein, denn das gestaltete sich immer noch als eine Art Bildungserlebnis, womöglich Abenteuerurlaub, wenn den vom Arbeitsprozess verschlissenen Werktätigen die Krankenkasse eine Regeneration verordnete, in den entsprechenden Kurorten. Vater schrieb sarkastische Postkarten, wie er um die Saline rennt und die gute Salzluft inhaliert, die stiekum seinen Kreislauf erneuert. Ein neuer Mensch! Wie er das Heilwasser in sich hineinschüttet, wie scheußlich das Heilwasser schmeckt. Wie Bad Orb haargenau so ausschaut – mit seinen hübschen Fachwerkhäusern in der hübschen Hügellandschaft – wie unsere kleine Stadt: Er hätte zu Hause bleiben können.
Wann die Kur in Bad Orb endet, Vater verzichtet auf die genaue Angabe; jedenfalls fährt er am 12. Juni nach Hause zurück. Am 9. Juni verzeichnet er, dass M. Lympius Geburtstag hat, den wir aus dem Adressenverzeichnis kennen. Der Geburtstag ist auch am 9. Juni 1957 und am 9. Juni 1958 vermerkt, fehlt aber am 9. Juni 1956 und die Jahre davor. Was in den drei Jahren im Adressenteil fehlt, ist die Adresse der Lympiusens – Vater kennt sie auswendig. Zuletzt schrieb er sie für 1955 auf, Berlin-Steglitz, Südendstraße 4, keine Telefonnummer.
Es handelt sich um Angehörige. Vater zieht sich in den Raum der Familie zurück. So wie er sich in die Geographie zurückzog, als er die Ortsnamen den Firmennamen vorzuziehen begann.
Am 18. August ist in allen drei Kalendern der Geburtstag von Else Lympius verzeichnet, der in all den Jahren davor ebenfalls fehlt.
Also kein Mädchen im Hafen von Berlin-Steglitz, sondern eine Cousine. Sie ist mit M. Lympius verheiratet.
So schauen wir dem Zerfall eines Liebesromans zu.
Hat irgendwer ihn je für voll genommen? Vaters Mädchen im Hafen von Kassel, im Hafen von Bremen, im Hafen von Stuttgart, von München? Der Revisor im Rentenalter als Matrose auf großer Fahrt? Für einen Augenblick macht den Roman zu glauben Freude, nur einen
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