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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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der Moselstraße, wie er aufschreibt), wird Charles de Gaulle zum Staatspräsidenten der französischen Republik proklamiert, eine neue, die V. Republik, deren Verfassung Charles de Gaulle auf den Leib geschneidert ist, wie man so sagt.
    Vater nahm schon die ganze Zeit dankbar die Gelegenheit wahr, genüsslich auf den alten Erbfeind zu schimpfen. Wie Charles de Gaulle es während des Krieges schaffte, sich zwischen Großbritannien und die USA zu drängeln und das geschlagene Frankreich zu einer der vier Siegermächte über Hitler zu machen; wie er sich in den Fünfzigern als Retter des Vaterlandes rufen ließ in dem Bürgerkrieg um die Unabhängigkeit Algeriens – und der rechtsnationalen Parole Algérie francaise! zu folgen versprach –, und dann ging’s ihm bloß um ein persönliches Regiment mit autokratischen Vollmachten. Vater liebte es, Charles de Gaulle parodistisch nachzumachen, das fliehende Kinn, die vorspringende Nase, die müde-hochmütigen Augen. Dazu legte er, gern in der Badehose, oben im Garten, die rechte Hand zum militärischen Gruß an die Schläfe, und Mutter und Sohn lachten sich schief. Gern ließ sich Vater von Mutter und Sohn bitten, den Auftritt zu wiederholen – und lachen musste man schon deshalb, weil Vater klein und dick war, während Charles de Gaulle den Spitznamen die Giraffe trug, und die Darstellung einer hochmütigen Giraffe, wie sie La Grande Nation verkörpert, durch einen kleinen Dicken macht eo ipso ein starkes Gefühl. – . . . ein schöner Film, könnte der Kinogeher plappern, The Day of the Jackal (1973), von Fred Zinnemann, mit Edward Fox als Berufskiller, der die Giraffe liquidieren soll im Auftrag der rechtsnationalen Bürgerkriegsfraktion. Von Fred Zinnemann stammt übrigens der Edelwestern, wie man damals sagte, High Noon (1952), mit Grace Kelly und Gary Cooper, der deutsche Eltern und Lehrpersonen davon überzeugte, dass der amerikanische Western ein politisch-hochmoralisches Genre sein kann. Die Kulturbürger werteten es als weiteres Zeugnis für den Kulturverfall, den die Amerikanisierung in Deutschland seit 1945 bewirkte – Dekadenz nannte es die DDR und bekämpfte die Amerikanisierung nach Kräften.

    1957 erhält Albert Camus den Literaturnobelpreis, einer der algerischen Franzosen. Die Pest, sein Roman von 1947, galt als eine Art Parabel auf Nazi- und Sowjet-Tyrannei, auf den Totalitarismus: Die Seuche überfällt und durchdringt eine Stadt, und jeder muss zeigen, wie er sich zu dieser Herrschaft verhält, Anpassung oder Widerstand. Das handelt der Roman – den Mutter in der deutschen Taschenausgabe von 1950 las – am Modell unserer (kleinen) Stadt (in Nordafrika) ab; leicht an Grimmburg oder Melsungen oder Arolsen anzuschließen. Überhaupt übte das Modell von Our Town (1936), unserer kleinen Stadt, das Theaterstück von Thornton Wilder, stärkste Wirkungen im frühen Westdeutschland aus; leicht lässt es sich mit dem Edelwestern High Noon verknüpfen, der ja gleichfalls in Our Town spielt: weitere Beiträge zur Amerikanisierung, die den westdeutschen Kulturbürgern ebenso wie der DDR so verhasst war.

    »Zugegeben, die Stadt selber ist häßlich. Sie sieht so gesetzt aus, daß man einige Zeit braucht, bis man merkt, was sie von so vielen anderen Handelsstädten auf dem ganzen Erdball unterscheidet. Wie soll man auch eine Stadt anschaulich beschreiben, die keine Tauben, keine Bäume und keine Gärten besitzt, in der weder Flügelschlag noch Blätterrauschen zu hören ist? Ein farblos-nüchterner Ort! Einzig am Himmel ist der Wechsel der Jahreszeiten abzulesen. Den Frühling erkennt man nur an der veränderten Luft oder an den Körben voll Blumen, die kleine Verkäufer in der Umgebung holen; der Frühling wird hier auf dem Markt verkauft. Im Sommer versengt die Sonne die ausgetrockneten Häuser und bedeckt die Mauern mit grauer Asche; dann ist das Leben nur noch im Schatten der geschlossenen Fensterladen möglich. Im Herbst dagegen überschwemmt eine Flut von Schlamm die Stadt. Erst im Winter kommen die schönen Tage.« 22

    1958 erhält Boris Pasternak den Literaturnobelpreis für seinen Roman Doktor Schiwago, die Geschichte eines Arztes, der die Russische Revolution, den Bürgerkrieg, der alle Schrecken beim Aufbau des Sozialismus durchlebt. Es war genug Geld da, damit Mutter das Buch gleich kaufen konnte (dass sie nicht erst die Taschenbuchausgabe abwarten musste), und sie las den dicken Roman angelegentlich. Aber irgendwie verpuffte die Erzählung.

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