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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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restauriert. Und dabei kommt etwas ganz anderes heraus als das Deutsche Reich.

    Der Sohn lässt die Tage bis zum 21. Januar verstreichen, bevor er zum ersten Mal in sein Merkbuch für 1960 schreibt. Mit Bleistift: fahl/kein fleisch. Dann wieder Schweigen, bis zum 4.März, Neue Musik, Ernest Ansermet, A. Honegger: Pacific No. 231, Decca LW 5155. Und am 8. März: Abend, movens; dazu die schematische Zeichnung eines Fisches und darunter in Großbuchstaben das lateinische Wort videre (sehen) – wobei der Fisch ebenso ein Auge sein könnte. Alle Eintragungen in Bleistift; die Schallplatte wieder in Druckbuchstaben.

    Ein junger Dichter, der seine poetischen Einfälle notiert. Die man entschlüsseln könnte, wenn es ein fertiges Gedicht gäbe, zu dem sie die Vorarbeiten darstellen. Fahl, kein Fleisch, ein Fisch im Aug erblicken. Dazu Musik, die in weite Ferne führt.
    Es verhält sich vermutlich so, dass die Notizen tatsächlich auf die betreffenden Tage fallen, kein Fleisch auf den 21. Januar, Honegger auf den 4. März, videre auf den 8. März. Anders als bei Mutters Canasta-Rechnungen. Aber es fehlt jeder Kontext: Weshalb der Sohn an diesen Tagen notiert, was er notiert, die Schule, die Familie, die Landschaft, unsere kleine Stadt, sie bleiben uns vollständig verborgen.

    Flörsheim, schreibt Vater am 21. Januar, Brief Dr. Fabian. KK -Salden-Anzahl, DB 1958. Dem Adressenteil des Kalenders können wir entnehmen, bei welcher Firma in Flörsheim er die Bücher prüft – neulich war sie ja unleserlich –: Papierindustrie Döbbelin & Boeder, Flörsheim/Main, Telefon 06145/ 317 – heute wiederum tot.
    Flörsheim, schreibt Vater am 4. März in sein Merkbuch und dann ein Wort, das an den Tagen davor ebenfalls unter Flörsheim steht, Rabsieber – heute: Rabsieber 1958, während es am Montag hieß: Rabsieber 1955/57; am Dienstag Rabsieber wie vor; am Mittwoch und Donnerstag dasselbe wie Freitag, also Rabsieber 1958. Vermutlich eine Firma, mit der Döbbelin & Boeder regelmäßig Geschäfte tätigen, und deren Verlauf zeichnet Vater jetzt prüfend nach.

    Rabsilber, wieder ein poetischer Einfall, fahl, kein Fleisch.
    Ja, womöglich schreibt Vater Rabsilber statt Rabsieber. Und genau besehen, ist es der Kontextmangel, weshalb die Aufzeichnung Flörsheim Rabsilber so poetisch wirkt wie das fahle Fleisch des Sohnes.
    Floersheim könnte in den USA die Familie Rabsilber eines ihrer Kinder nennen, Floersheim Rabsilber. Is it a boy? Or is it a girl? Dazu erklingt die Musik von Arthur Honegger, die Reise an den Pazifik.
    Jedenfalls setzt Vater 1960 die Regression auf Ortsnamen, Familiennamen, den Rückzug aus dem Arbeitsleben nicht fort, den die Verrentung mit sich bringt. Im Gegenteil, er trägt in den Kalender Daten ein, die seine Arbeit identifizierbar machen, machen würden, wenn wir wüssten, wer Rabsieber oder Rabsilber ist. Immerhin scheint das Jahr 1958, was die Geschäftsbeziehungen von Döbbelin & Boeder angeht, besonders fruchtbar für die Prüfung der Bücher – Vater verbringt insgesamt viel Zeit mit ihnen. Es muss um irgendetwas im Zusammenhang mit der Papierindustrie gehen.
    Flörsheim kam oft vor in Vaters Erzählungen daheim, der Ortsname Flörsheim prägte sich ein. Wogegen die Papierindustrie Döbbelin & Boeder verloren ging; trotz der literarischen Interessen von Mutter und Sohn (und in deutlichem Unterschied zum Plexiglas, mit dem sich Röhm & Haas so unauslöschlich einschrieb).

    Ganz anders als in den Notizkalendern der vergangenen Jahre verzeichnet Vater, was genau er geprüft hat in den Büchern von Döbbelin & Boeder.
    Rechtsanwälte. Briefentwürfe. Belege 1957 geprüft. 1954 Konto-Differenzen.
    Belege berichtigen. Vertreterkonten. Sonstige Forderungen und Verbindlichkeiten.
    Abschlussdifferenzen. Entwicklung der Baudarlehen. Grethen-Abrechnung, Schmitt u. Ziegler. Abrechnung Rabsilber 1055. Buchungsbelege 1955 bis 1958 geordnet.
    Belege ergänzt. Seitenüberträge. Vertreter-Journale. Abstimmung 1958 Abschlussbuchungen. Akten ordnen.

    Detektivarbeit, möchte man spekulieren. Vater konnte in Flörsheim ein raffiniertes Lügengewebe aufdröseln. Es trieb ihn, jeden Schritt der Entdeckung genau zu verzeichnen.
    Literarisch gesehen, ein Schaffensrausch – wenn wir das Spiel fortsetzen wollen, dass dies hier irgendwie Literatur sei. So haben wir Vater noch nie erlebt. Bei einem richtigen Arbeitstagebuch, Belege 1957 geprüft – wobei die Formulierung verrät, dass es sich tatsächlich um Aufzeichnungen

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