Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Gedanken an den Tod zu verdrängen. Doch der Tod war schon da. Er war ihr unsichtbarer Untermieter, die Luft in der Wohnung roch nach Tod.
Papa empfing mich im Schlafanzug und einem abgetragenen Morgenmantel. Aus dem Schlitz der Schlafanzughose hing ein Schlauch, er trug einen Katheter mit sich herum. Dieser Mangel an Selbstkontrolle schockierte mich, ich erkannte ihn nicht wieder: mager, unrasiert, gelbgesichtig, mit dunklen Ringen unter den Augen. Mama war in besserer Form. Sie trug ein ordentliches Kleid und hatte sich die Lippen geschminkt. Mich rührte ihr Bestreben, mir zu zeigen, dass die Dinge noch immer unter Kontrolle waren.
Ich nannte sie Papa und Mama. Olga und Marko waren Lehrer. Goran hatten sie spät bekommen. Papa hatte die pädagogische Hochschule kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen und war zu den Partisanen gegangen. Nach dem Krieg bekleidete er eine hohe Position im kroatischen Volksbildungsministerium. Im Jahr achtundvierzig sagte er wie soviele andere etwas Unbedachtes und landete im Lager auf der Insel Goli Otok. Dort blieb er drei Jahre. Nach der Entlassung bot man ihm die Stelle eines Grundschullehrers in einem kleinen Ort im Gorski Kotar an. Als Goran zur Universität ging, schafften sie es, durch Wohnungstausch nach Zagreb überzusiedeln.
Papa war ein zurückhaltender und wortkarger Mann. Die Schweigsamkeit war eine Gewohnheit aus dem Lager. Goli Otok war lange ein Tabuthema, bis in den siebziger Jahren für kurze Zeit darüber öffentlich gesprochen wurde. So hatte Papa sein ganzes Leben lang geschwiegen. Er konnte seinem Gesprächspartner aufmerksam zuhören und stellte immer die richtigen Fragen. Goran liebte er unaufdringlich, irgendwie nebenbei, als überließe er Mama die Sache. Ich glaube, dass er auf seine Art auch mich mochte.
Jetzt ließ er keinen zu Wort kommen. Er redete ohne Pause. Stellte Fragen und beantwortete sie selbst.
»Ich höre, dass du Schüler hast? Ich habe versucht auszurechnen, wie viele es bei mir in dreißig Jahren Lehrtätigkeit waren. Und dann wollten wir Olgas Schüler dazuaddieren. Wir haben gerechnet und gerechnet und sind zu keinem Ergebnis gekommen. Ich sage zu Olga, wozu ist unser Sohn Mathematiker, schreib ihm, soll er doch die Zahl unserer Schüler errechnen …«
»Lass doch jetzt die Schüler … Tanja, du kannst mir in der Küche helfen«, rief Mama und zog mich mit sich.
»Du siehst ja selbst. Ich brauche dir nichts zu sagen«, flüsterte sie.
Ich schwieg.
»Er redet ohne Unterlass. Ich höre schon gar nicht mehr zu.«
»Warum hat er den Katheter?«
»Frag lieber nicht, da ist nichts mehr zu machen«, sagte sie und fuhr fort: »Nimm bitte die Keksschachtel aus der Speisekammer.«
Ich öffnete die Tür des Schranks, den sie »Speisekammer« nannte. Auf der Innenseite war das Titelbild eines Magazins ungeschickt mit Tesafilm befestigt. Es war ein Foto von Tito in Marschalluniform. Ich glaubte, Papa und Mama hassten Tito, obwohl sie es nie laut äußerten. Papa hatte vier Jahre bei den Partisanen für ein neues Jugoslawien gekämpft und wenige Jahre später unschuldig im Lager geschmachtet. Jetzt schmachtete sein »Exekutor« zwischen bescheidenen Vorräten an Reis, Mehl, Zwiebeln und Kartoffeln wie in einem häuslichen Schrein. Papa und Mama hatten ihn rehabilitiert. In der Speisekammer. Die Zeit mit Tito war offenbar besser als die heutige, nur dass sie das nicht laut zu sagen wagten, so wie sie zu Titos Zeiten vieles nicht sagen durften …
»Wann hat diese Logorrhö begonnen?«, fragte ich, während ich aus der »Speisekammer« eine runde Blechdose mit der Aufschrift »Danish Cookies« nahm.
»Ich weiß nicht. Wohl so nach und nach … Bis es so offensichtlich wurde, dass selbst ich es bemerken musste. Wenn ich nicht im Zimmer bin, redet er mit den Wänden. Er redet ständig. Es ist nicht mehr wichtig, ob ihm jemand zuhört. Ich halte es nicht mehr aus, glaub mir. All das habe ich tausendmal gehört. Selbst wenn er schläft, scheint mir, dass er etwas murmelt. Ich kann es kaum erwarten, dass all das aufhört«, sagte sie und biss sich auf die Lippe.
»Und Goran? Weiß er Bescheid? Und wie geht es ihm?«
»Wenn du willst, kannst du seine Briefe lesen«, bot sie mir an.
»Lieber nicht …«
Mama verschwand kurz und kam mit einem Foto wieder.
»Ich sollte dir das nicht zeigen … Aber es ist wohl besser, wenn du es weißt …«
Sie reichte mir das Foto. Es zeigte Goran und eine Japanerin.
»Sie ist schön
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