Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
…«
»Sie heißt Hito«, sagte sie erleichtert. »Ich und Papa nennen sie im Scherz Tito. Sie sieht sympathisch aus, nicht?«
Ich warf noch einen Blick auf das Bild und fühlte den leisen Stachel der Eifersucht.
Sie seufzte.
»Das Leben geht weiter, Tanja, was will man machen … Für uns Alte ist es egal, wir haben alles hinter uns. Aber wenigstens ihr Kinder solltet es besser haben … Ich höre von deiner Mama, dass du es gut getroffen hast.«
»So einigermaßen.«
»Du warst immer eine Musterschülerin.«
Eigentlich wollte sie etwas anderes sagen, dass sie »auf meiner Seite« stehe, wusste aber nicht, wie sie es ausdrücken sollte.
»Goran war traurig, als du nicht mit ihm gehen wolltest.«
»Ich weiß.«
»Zum Glück heilt die Zeit alle Wunden.«
In der Küchentür erschien Papa.
»Ihr tuschelt hier herum und lasst mich allein. Wo hast du das her, dass die Zeit alle Wunden heilt? Jede Dummheit plapperst du nach wie ein Papagei. Die Zeit heilt keine Wunden, sondern schlägt welche …«
Wir gingen ins Wohnzimmer. Tranken Kaffee. Mama öffnete die Keksdose. Sie enthielt Teekringel einstiger jugoslawischer Produktion. Ich knabberte einen an. Er war so alt, dass er nach nichts mehr schmeckte.
Papa hörte nicht auf zu reden. Mama wedelte ab und zu mit der Hand, als verjage sie Fliegen. Dann stand sie auf und schaltete den Fernseher ein. Papa murrte, dass sie ihm nie zuhöre und sich immer nur das dumme Fernsehen anschaue. Mama dämpfte den Ton. Sie sah sich eine amerikanische Seifenoper mit Untertiteln an. Der Ton war überflüssig.
Ich blickte mich in ihrem Wohnzimmer um. Mir schien, dass alles kleiner geworden war, wie auch die beiden. Zusammen mit ihnen war alles alt, grau, schäbig geworden, einschließlich des verstaubten Gummibaums in der Ecke.
Papas Worte überschwemmten den Raum. Er rechnete ab, stritt mit jemandem, murrte, protestierte. Die Worte kamen mit dem Alter, mit dem Katheter, mit der Unfähigkeit, seine Blase zu kontrollieren. Die Worte waren fast etwas Körperliches. Er war sich gar nicht bewusst, dass sie ständig aus ihm flossen.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Dann stand ich auf, als erwachte ich aus einem Schlaf.
»Ich muss gehen, meine Mutter wartet mit dem Abendessen«, sagte ich.
Sie versuchten nicht, mich aufzuhalten.
»So leben wir eben, Tanja«, sagte Mama wie zur Entschuldigung.
»Hör doch auf, wir leben hervorragend, verglichen mit Menschen anderswo. Wäre nicht geschehen, was geschehen ist, würden wir besser leben als die Amerikaner«, knurrte Papa und zog schwer atmend drei Mappen unter dem Fernsehtisch hervor. Sie waren im DIN - A 4-Format, mit Büroklammern zusammengeheftet.
»Hier, nimm. Lies das, dann wirst du sehen … Ein paar Kritzeleien von mir …«, sagte er.
Zum Abschied küsste ich die beiden. Papa kam mir verwirrtvor. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das er vergeblich beizubehalten versuchte. Er schürzte den Mund wie ein Kind, das von allen verlassen wurde und nur mühsam das Gefühl der Kränkung unterdrückt. Er hatte denselben Gesichtsausdruck wie vermutlich ich bei der Ankunft auf dem Flughafen.
3.
Ich sah zu, wie sie sich in die Fingerkuppe stach, mit einer winzigen Pipette einen Tropfen Blut absaugte, es mit zitternder Hand in einen kleinen Apparat entleerte, gespannt auf die Zahlen im Display wartete und sie dann sorgfältig in ihr »Zuckertagebuch« eintrug. Datum, Uhrzeit, soundso viel Zucker. Ich sah zu, wie sie besorgt auf die Armbanduhr blickte, dann den Kühlschrank öffnete, die Lebensmittel fürs Frühstück herausnahm, den Tisch deckte, zwei Teller, zwei Tassen, zwei Löffel, zwei Servietten …
»Mach dir selbst Kaffee, ich trinke wegen des Zuckers keinen mehr.«
Ich verrührte Nescafé in kalter Milch.
»Mach dir die Milch warm. Willst du nichts essen?«
»Ich kann nicht …«
»Aber ich muss. Immer pünktlich. So ist das mit dem Zucker«, seufzte sie.
Sie knetete und zerkrümelte das Brot zwischen den Fingern, wie das Kinder tun. Auch das war eine ihrer neuen Angewohnheiten.
»Die ganze Zeit beobachtest du mich und uns alle, als wären wir Versuchskaninchen«, sagte sie in einem neuen Ton.
»Das ist nicht wahr«, sagte ich.
Sie nahm ein Stückchen Brot und rollte es hastig zu einerKugel. Es schnürte mir die Kehle zu. Gleich fange ich an zu weinen, dachte ich. Und sie auch.
»Als hätten wir dir was angetan! Als wäre ich schuld daran, dass Goran dich verlassen hat. Und dass alles so gekommen
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