Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
ist.«
Ich darf ihr nicht auf den Leim gehen, sagte ich mir immer wieder. Um keinen Preis …
»Nach dem Frühstück muss ich packen und ein Taxi rufen«, sagte ich so ruhig wie möglich.
Sie wurde streitsüchtig.
»Die Holländer haben dieselbe Zeit wie wir?«
»Das weißt du doch.«
»Dort ist es jetzt auch halb neun?«, insistierte sie hartnäckig.
»Ja. Sie sagen auch halb neun, nur auf Holländisch.«
»Ich weiß nicht, warum, ich dachte, sie seien eine Stunde zurück«, sagte sie.
»Nein. Wir haben dieselbe Zeit.«
»Ich weiß nicht …«, seufzte sie. »Irgendwie gefällt es mir nicht, dass du dort bist«, sagte sie mit Betonung auf dem
dort
.
»Warum?«
»Diese Kanäle stinken doch sicher?«
»Nein.«
»Das ist abgestandenes Wasser, es muss stinken.«
»Seltsamerweise stinkt es nicht.«
»Ich könnte dort nicht leben, auch nicht für Geld.«
»Warum?«
»Weil es ständig regnet und in den Kanälen Ratten schwimmen.«
»Wo hast du das her?«
»Aus dem Fernsehen«, log sie.
»Ich habe keine einzige gesehen.«
»Du siehst sowieso nichts. Du gehst durch die Welt wie ein blindes Huhn …«
Es drückte mir das Herz ab. Jetzt vor dem Aufbruch wollte sie mir einen Stich versetzen. Ich war dabei, sie zu verlassen, und sie wollte mich bestrafen. Früher hatten mich solche Gespräche zum Weinen gebracht, aber mit der Zeit hatte ich gelernt, mich zu schützen.
»Ich geh packen«, sagte ich, stand auf und ging zum Zimmer.
Sie folgte mir.
»Möchtest du etwas mitnehmen?«
»Was denn?«
»Was weiß ich … Vielleicht selbst gemachtes Pflaumenmus?«
»Woher hast du selbst gemachtes Pflaumenmus?«
»Von Frau Buden. Ich darf es wegen des Zuckers ohnehin nicht essen.«
»Na gut«, sagte ich versöhnlich.
Sie brachte das Glas in einer Plastiktüte.
»Steck es hier zwischen die Kleider, damit es nicht kaputtgeht … Mein Gott, du kannst immer noch nicht packen«, sagte sie und ordnete den Inhalt der Reisetasche.
»Möchtest du noch etwas von deinen alten Sachen?«
»Nein«, sagte ich, zog den Reißverschluss zu und sah auf die Uhr. Bis zum Start des Flugzeugs war noch reichlich Zeit.
»Gib die Sachen jemandem. Der Nachbarin Vanda«, fügte ich hinzu (
Wenn ich dorthin gehe, komme ich mir vor wie beim eigenen Begräbnis,
hatte Nevena gesagt).
Sie überhörte das absichtlich. Ich rührte mir noch einen Kaffee an.
»Ständig trinkst du diesen kalten Nes. Ich könnte dir die Milch warm machen.«
»Ich mag es so.«
»Du warst schon immer eigensinnig … Warum rufst du kein Taxi?«
»Wir haben noch Zeit.«
»Ruf an! Die brauchen lange, bis sie kommen …«
»Wir haben noch Zeit …«
Sie sah mich an und senkte dann den Blick. Wir versuchten krampfhaft, auf harmloseres Terrain zu gelangen.
»Ich könnte dir den Blutdruck messen. Das machst du doch nie«, schlug sie vor.
»Ja, gut«, sagte ich. Der Schlag war so heftig, dass ich kaum Luft bekam (
Ich fühl mich wie ein Punchingball, alles tut mir weh
, hatte Boban gesagt).
Sie brachte ein Plastiktäschchen mit dem Blutdruckmessgerät. Langsam schob sie die Manschette auf ihren linken Arm, zog sie fest und drückte mit der anderen Hand auf eine Taste. Sie lauschte auf das Summen des Apparats und verfolgte die Zahlen auf dem kleinen Display …
»Dein Blutdruck ist normal«, sagte sie mit einer abwesenden Heiterkeit und löste die Manschette von ihrem Arm.
Sie hob den Blick. Als sie meinen traf, zuckte sie zusammen.
»Ich habe es erst bei mir getestet, um zu sehen, ob es funktioniert«, sagte sie hastig, wie ein Kind, das man bei einer Lüge ertappt hat. »Gib deinen Arm.«
Ich streckte ihn aus. Sie streifte mir die Manschette über und zog sie fest. Den Apparat hielt sie im Schoß mit beiden Händen. Sie drückte auf die Taste. Auf dem Display erschienen drei Achten und verschwanden. Sie drückte auf Start. Wir verstummten. Mein Arm schwoll an. Wir lauschten dem Summen des Apparats und verfolgten mit dem Blick das Steigen und Sinken der kleinen Zahlen im Display, bis sie anhielten.Ich verspürte plötzlich den Wunsch, für immer in dieser Lage zu verharren.
»Alles normal. Kein Grund zur Sorge«, sagte sie und nahm mir die Manschette ab.
Das war unsere Umarmung, unser Abschiedskuss. Der kleine Blutdruckmesser war der sichtbare Ersatz für die unsichtbare Nabelschnur. Unser Blutdruck war normal. Unsere Herzen schlugen regelmäßig. In diesem Augenblick hatten wir einander alles gesagt.
Ich rief ein Taxi. Es kam sofort. Sie begleitete
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