Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
verkauf es, wenn du es für nötig hältst«, sagte ich.
»Es ist doch auch dein Haus!«
»Nein, es ist dein Haus«, sagte ich.
»Diesen Sommer hat es wieder leer gestanden. Ich dachte, du würdest mit Goran zurückkommen, dann hättet ihr etwas Eigenes am Meer gehabt, und wir alle hätten dort Ferien machen können. Aber so hat es keinen Sinn. Schade, dass das Haus leer steht.«
Sie spann ihre Geschichte weiter. Goran und ich hatten ohnehin selten dort Ferien gemacht. Es war ihre Projektion eines Familienidylls. Sie verbrachte in diesem Haus die Sommer mit ihrem Mann, bis ihr Mann kurz vor dem Krieg ebendort einen Infarkt bekam. Seitdem war sie selten dort gewesen. Das Haus auf der Insel Cres stand wirklich leer.
Wir schwatzten noch ein bisschen über das Fernsehprogramm, über die hohen Preise, und dann ging Mutter, müde geworden, zu Bett. Sie schlief sofort ein wie ein Kind. Ich schaltete den Fernseher aus, löschte das Licht und begab mich in mein »Gästezimmer«.
Ich legte mir Mutters wollene Stola um und trat auf den Balkon. Lange starrte ich in die Dunkelheit. Ich dachte daran, dass ich in ihrer Wohnung kaum vorhanden war. Fotos, ein paar alte Kleider, das war alles. Der Gedanke tat mir nicht weh. Ich fragte mich, warum denn mehr von mir da sein sollte. Auch als ich mit ihr zusammenwohnte, füllte sie den ganzen Raum. Ich war immer irgendwo in der Ecke.
In ihrer Wohnung existierte ich in versteinerten Fragmenten. Und die wählte sie aus. Sie war die Herrscherin auf ihrem Gebiet, arrangierte und rearrangierte die Dinge, als wäre das Leben eine Fotosammlung in der Vitrine. Deshalb hatte sie auch das Foto von mir und Goran aufbewahrt. Sie hatte beschlossen, unsere Verbindung aufrechtzuerhalten, sie war die Regisseurin ihrer häuslichen Seifenoper. Unsere Trennung erkannte sie nicht an, sie passte nicht in ihr Konzept.
Ja, ich war »nach Hause« gekommen. Ich kaute den Gedanken an »Zuhause« wie einen alten Kaugummi, aus dem ich den letzten Rest Geschmack heraussaugen wollte. »Zuhause« war nicht mehr »Zuhause«. Geblieben war Mutter. Goran war nicht mehr da, viele Freunde waren in der Welt verstreut, die verbliebenen waren keine Freunde mehr. Das war von selbst gekommen, ohne dass ich oder sie es gewollt hätten.
Ich starrte auf die dunklen Gebäude, die das unsere wie ihr Spiegelbild anschauten. Dieses Versinken in die Finsternis tat mir wohl, ich versuchte, an nichts zu denken. Dann schlüpfte ich ins Bett mit Mutters Stola. Ich umklammerte sie wie ein Plüschtier, und so schlief ich ein.
2.
Seit ich weg bin, meine Seel, gerät bei mir alles durcheinander, ich weiß nicht mehr, wie spät es ist
, sagte Meliha. Das Leben meiner Schüler war aufgeteilt in das
vor dem Krieg
und das
nach dem Krieg
. Während sie die Zeit
vor dem Krieg
leicht rekonstruieren konnten, herrschte in der Zeit
nach dem Krieg
das Chaos. Wobei die Zeit
nach dem Krieg
den Krieg selbst einschloss. Die einfachsten Fragen konnten sie in Verlegenheit bringen.
»Sie meinen, wann ich das
Land
verlassen habe?«
So sagten sie, möglichst neutral, das
Land
.
»Ja.«
»Aber ich bin nicht gleich hierher gekommen …«
Zuerst war dies oder jenes geschehen, zuerst war der Betreffende da und dort gewesen und dann
hier
gelandet, in den Niederlanden. In den Geschichten über die Vertreibung gab es keine Daten. Mit Daten gingen sie leichter im Holländischen um, denn die holländischen Beamten stellten ihnen immer dieselben Fragen.
Wann sind Sie zum ersten Mal in die Niederlande gekommen?
Und obwohl sie gelernt hatten, wie aus der Pistole geschossen zu antworten, machten sie sich den wahren Inhalt ihrer Antworten nicht zu Eigen. Die Zeit
nach dem Krieg
war wie eine mythische Zeit, in der es unwichtig war, ob hundert, zweihundert oder dreihundert Jahre vergangen waren.In dieser kurzen Zeit
nach dem Krieg
war zu viel geschehen. Unter dieser Last waren ihre mentalen Uhren zerbrochen. Alles war zerbrochen, zerfallen, zerteilt. Ort und Zeit waren geteilt in
vorher
und
nachher
. Ihr Leben war geteilt in dies
hier
und jenes
dort
. Auf einmal waren sie ohne Zeugen, Eltern, Verwandte, Freunde, Bekannte, nahe stehende Menschen, mit denen wir die Daten unseres Lebens immer wieder rekapitulieren. Aber ohne verlässliche Mittler zwischen uns und unserer Vergangenheit hängt das Erlebnis der Zeit und der Wirklichkeit allein von uns ab.
Als ich eintrat, spürte ich, dass sie die Uhrzeiger angehalten hatten. Sie hatten sich eingekapselt, um den
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