Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
daraufwarten, dass sie mich abholte. Einmal »vergaß« sie mich im Krankenhaus, wo sie mich nach einem harmlosen Eingriff in Empfang nehmen sollte. Ich erinnere mich, dass ich die ganze Nacht vollständig angezogen auf dem Bett saß und fast starb vor Angst, sie nie wieder zu sehen. Sie kam am nächsten Morgen. Sie ließ nicht zu, dass ich aus solchen Kleinigkeiten »ein Drama machte«, und mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, lernte, ohne sie auszukommen. Ich war »Mamas selbstständiges Fröschlein«. Sie arbeitete fleißig und gewissenhaft, hatte Ökonomie studiert und es bis zur Bankdirektorin gebracht. Sie wechselte im Laufe der Jahre mehrere feste Freunde und zwei Ehemänner. Ich behielt den Status von »Mamas Musterschülerin« und ihrem »einzigen Goldkind«.
Jetzt hörte ich zu, wie sie mit übertriebener Anteilnahme von Nachbarn erzählte, die sie vorher nie interessiert hatten; von Verwandten, die sie nie erwähnt hatte; von Menschen, die ich nicht kannte. Dieser lange Bericht war wohl ihre Art, Leere zu füllen, die Tatsache zu vertuschen, dass immer weniger Menschen um sie waren, ihre Todesangst zu vertreiben, der Konfrontation mit mir auszuweichen, meiner Ankunft, die ohnehin nur die Ankündigung einer neuen Abreise war, mit Worten die Schärfe zu nehmen, Risse zu stopfen, die seit der letzten Begegnung verflossene Zeit auszulöschen, die »Dinge in Ordnung zu bringen« …
»Herr Šarić vom ersten Stock ist gestorben …«
»Woran?«
»Am Hirnschlag.«
»Das tut mir Leid …«
»Und den Božičević vom siebenten Stock ist der Sohn umgekommen.«
»Wie denn das?«
»Ein Verkehrsunfall. Du wirst sehen, Frau Božičević ist um zwanzig Jahre gealtert. Sie ist über Nacht grau geworden … Aber ich rede hier nur von traurigen Dingen … Es gibt noch eine Neuigkeit«, sagte sie.
Sie testete mich, sie wollte sehen, wie viel Mitgefühl sich in meinem Gesicht abzeichnete. Zeigte ich genug oder bekam sie Gelegenheit, mich der Gleichgültigkeit zu beschuldigen (
Dich haben unsere Nachbarn nie interessiert,
als ob sie sich da immer engagiert hätte). Ihre Empfindlichkeit kam mit dem Alter, früher hatte sie über jede übertriebene Gefühlsäußerung gespottet.
Sie stand auf, verschwand kurz und kam mit einem Notizblock zurück. Mit dem Eifer eines Kindes, das sein neues Spielzeug vorführen will, zeigte sie mir ihr »Tagebuch«. Es war bis zur Hälfte mit Daten und Zahlen gefüllt.
»Was ist das?«
»Mein Zuckertagebuch.«
»Dein was?«
»Ich habe Zucker und messe ihn jeden Tag.«
»Hoch?«
»Ziemlich. Ich spritze Insulin.«
»Warum?«
»Die Ärztin hat gesagt, ich solle gleich mit Insulin in kleinen Mengen anfangen, sonst könne es zu spät sein.«
Sie sprach über ihren Alterszucker so intim, so kompetent und so besorgt, als ginge es um ein geliebtes Haustier. Mit dem Daumen zeigte sie mir die Daten und erläuterte detailliert, wann und warum der Zucker angestiegen und wann der Zuckerspiegel zufrieden stellend war.
»Ich zeig’s dir, wie ich ihn messe«, sagte sie und fügte hastig hinzu: »Wie lange bleibst du?«
»Eine Woche.«
»Du wirst viel zu erledigen haben«, sagte sie und presste die Lippen zusammen.
»Was zum Beispiel?«
»Du musst deinen Personalausweis umtauschen. Sie haben neue eingeführt. Man muss dort furchtbar lange warten. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen. Auch müsstest du zum Anwalt gehen wegen eurer Wohnung und außerdem deinen Gesundheitspass umtauschen. Die sind auch neu. Ständig wird etwas verändert«, schwatzte sie.
Sie war voller unerklärlicher Angst, dachte ich, und hatte offensichtlich gelernt, sie mit Worten zu vertuschen.
Als sie eine Schublade der Vitrine öffnete, um mir zu zeigen, wie die neuen Ausweise aussahen, bemerkte ich, dass sie dort noch immer das Foto von mir und Goran in Berlin aufbewahrte.
»Du solltest bei Gorans Eltern vorbeischauen. Marko geht es nicht gut«, sagte sie, als sie meinen Blick auffing.
Wir räumten den Tisch ab und spülten das Geschirr. Ich packte meine Sachen und die Geschenke für sie aus, einen warmen Hausmantel und Pantoffeln. Als sie den Hausmantel in den Schrank hängte, zeigte sie mir, was sie an Kleidung inzwischen gekauft hatte.
»Ich habe mir viel Neues angeschafft … Das hier habe ich nur einmal getragen, an meinem Geburtstag. Als ob ich noch groß ausginge«, seufzte sie.
Später sahen wir uns zusammen eine brasilianische Telenovela an, deren Inhalt sie mir vergeblich zu erläutern versuchte. Auch
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