Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
erstarrtund zählte die Schläge meines Herzens. Mit angehaltenem Atem lauschte ich seinem Rhythmus, als sei das Herz ein Vogel, der jeden Augenblick wegfliegen konnte.
Allmählich erreichten mich aus einer ungeheuren Entfernung auch andere Bilder. Eins davon war mir sehr vertraut, ein kleines Schwarzweißfoto, das meine Mutter in ihrem Album aufbewahrte. Als es aufgenommen wurde, mag ich vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Ich stehe da auf einem leeren Feld, den Blick auf den Fotoapparat gerichtet. Es ist Winter, jedoch ohne Schnee. Ich trage ein strenges doppelreihiges Tweedmäntelchen. Der kleine Kragen und die Taschenklappen sind aus Samt. Die eine Hand ist in der Tasche verborgen (man sieht die etwas angehobene Klappe), der andere Arm hängt neben dem schmächtigen Körper herab. Auf dem Gesicht ist der Anflug eines kaum wahrnehmbaren Lächelns zu erkennen. Hinter mir nichts. Neben mir nichts. Auf dem Foto gibt es nur mich, ein kleines, einsames Menschenkind, das jemand auf das freie Feld hinauskatapultiert hat. Obwohl ich das Foto kannte, erschütterte mich jetzt zum ersten Mal die harte und unverkennbare Einsamkeit, die es vermittelte.
Ein leichtes Frösteln riss mich aus meiner Erstarrung. Mühsam schleppte ich mich auf dem Stuhl bis zum Telefon, aber dann war ich am Ende meiner Kräfte. Nach einer Weile gelang es mir, das Telefon heranzuziehen, ich wählte die 112 und gab meine Adresse durch. Als schließlich ein Polizist in der Tür erschien und mich, die Hände mit den Handschellen an die Armlehnen gefesselt, mit drei blutverkrusteten Einschnitten auf dem rechten Handgelenk, in einem nach Urin riechenden Zimmer vorfand, entdeckte ich in seinem Blick etwas Vertrautes. In dieser Sekunde schob sich etwas übereinander, rastete etwas ein. Der Polizist sah mich mit dem gleichen Blick an, mitdem ich das Foto des einsamen Mädchens auf dem Feld betrachtet hatte.
Igor hatte Recht. Ich werde ihn nie vergessen. Er mich aber auch nicht, dafür habe ich gesorgt. Denn ich habe dem Polizisten seinen Namen nicht verschwiegen und auch noch eine Vergewaltigung hinzugedichtet. Auf Vergewaltigung, Belästigung und gewaltsamen Einbruch in eine fremde Wohnung stünden schon einige Jahre Gefängnis, dachte ich. Und auch eine Vorstrafe, die sein ganzes Leben an ihm haften würde. Hätte ich das nicht getan, würde er mich vergessen, aber so müsste er immer an mich denken. Ich hatte den Samen gelegt. Schließlich war ich Lehrerin!
Es gibt kein Erbarmen, kein Mitgefühl, es gibt nur das Vergessen. Die Erniedrigung und der Schmerz sind die einzigen Garanten für ein langes Erinnern. Das haben wir in dem Land gelernt, aus dem wir kamen. Schreie und Schluchzen sind Töne, die wir hören und die uns anrühren wie eine Pawlow’sche Glocke, für alles andere sind wir taub. Den Geruch der Angst erkennen wir unfehlbar und sofort, er vor allen anderen reizt unsere Geruchsnerven.
Die drei kleinen Narben auf meinem rechten Handgelenk, einem Armband gleich, und der scharfe Uringeruch werden die unsichtbaren Fesseln sein, die uns, mich und meinen Schüler, aneinander ketten. Im Zeitlupentempo sah ich mich in Zukunft mit einer neuen Geste, die ich wie einen Tick nicht mehr loswerden würde: Ich hebe den Arm, lege meine Lippen auf die drei kleinen Einschnitte am Handgelenk, drücke einen Kuss auf Igors Stempel, folge mit der Zungenspitze den drei kleinen Narben, als prüfte ich, ob sie noch da sind. Dann drehe ich das Handgelenk zum Licht hin. Feucht von meiner Spucke erstrahlen die Narben in magischem perlmuttartigem Glanz.
Fünfter Teil
1.
Humpty Dumpty sat on a wall,
Humpty Dumpty had a great fall.
All the King’s horses and all the King’s men
Couldn’t put Humpty together again.
Lewis Carroll
Die Albträume waren mit dem Beginn des Krieges gekommen und suchten mich später nach Gorans und meinem Weggehen aus Zagreb wieder heim. Sie hatten immer die gleiche Struktur und bezogen sich auf das Haus, das Zuhause. Das hatte in meinen Träumen zwei Seiten: eine vordere und eine Kehrseite. Die vordere kannte ich, die Kehrseite entdeckte ich in meinen Träumen. Sie war »der doppelte Boden«, »die Faust in der Tasche«, »der Teufel aus der Kiste«. Manchmal entdeckte ich im Traum eine Treppe, eine Tür, einen Gang, die mich zu einem Parallelteil des Hauses führten, von dessen Existenz ich nichts wusste. Oder ich fand heraus, dass das Haus halb in der Luft hing, wie »das Schloss zwischen Himmel und Erde«. Rückte ich ein
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