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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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in den Videorekorder. Dann ging ich zum Sofa zurück, schüttelte leicht die Tapetenreste vom Überwurf und legte mich hin …

    Irgendwann in der Nacht weckte mich der Fernseher. Aus dem Bildschirm rieselte Schnee ins Zimmer. Ich öffnete das Fenster.Draußen war eine warme Julinacht. Der Betonplatz war beleuchtet vom Mondschein und von dem Neonschriftzug »Basis« an dem Gebäude gegenüber. Rechts konnte ich einen Zipfel der türkisfarbenen Kuppel einer kleinen Betonmoschee sehen. Auf dem Platz standen junge Kastanienbäume mit kleinen Kronen. Auf einer Bank unter einem Baum saß ein Mann. Er trug einen Turban auf dem Kopf und schien zu schlafen.
    Geerts und Anas Wohnung befand sich in einem der grauen, billig gebauten, mit Menschen voll gestopften Wohnblocks, in einer dieser tristen Siedlungen, die um die Städte herum aufgereiht sind wie die Schlüssel an Metallringen, die Schlossherren am Gürtel tragen. Manche bezeichnen diese Siedlungen als Ghettos. Diese nannte man »Klein-Casablanca«, wie ich später erfahren sollte.

2.
    Wir sind Barbaren. Menschen unseres Stammes tragen den unsichtbaren Stempel von Kolumbus’ Irrtum auf der Stirn. Wir reisen in den Westen und kommen immer im Osten an. Je weiter westwärts wir gehen, desto östlicher gelangen wir. Auf unserem Stamm lastet ein Fluch. Wir siedeln gern an den Rändern der Städte, damit wir eines Tages leichter unsere Zelte abbrechen und uns wieder auf den Weg machen können, noch weiter nach Westen, um noch weiter im Osten anzukommen. Wir leben in grauen, billig gebauten, mit Menschen voll gestopften Wohnblocks, in tristen Siedlungen, die um die Städte herum aufgereiht sind wie die Schlüssel an Metallringen, die Schlossherren am Gürtel tragen. Manche bezeichnen diese Siedlungen als Ghettos.
    Alle unsere Siedlungen gleichen sich. Man erkennt sie an den runden Satellitenschüsseln, die aus unseren Balkons ragen. Dank diesen metallenen Fühlern sind wir ständig am Puls unserer zurückgelassenen Heimatländer. Wir sind Verlierer, tagtäglich an den Megakreislauf des Landes angeschlossen, das wir voller Hass verließen. Sie hingegen haben keine Antennen. Sie haben Hunde. In der Abenddämmerung kommen die Hunde auf die Balkons und bellen sich gegenseitig Botschaften zu. Ihr Gebell prallt von den Betonblöcken zurück wie Pingpongbälle. Vom Echo angestachelt, bellen die Hunde noch lauter.
    Wir haben Kinder. Wir vermehren uns ungeheuerlich. Man sagt, dass ein Känguruweibchen ein Junges hinter sich herschleppt, das zweite im Beutel trägt, dass das dritte im Bauch darauf wartet, hinauszuschlüpfen, während das vierte, ein soeben befruchtetes Ei, bereitsteht, seinen Platz einzunehmen. Unsere Frauen sind groß wie Känguruweibchen. Sie schleppen viele Kinder mit sich, Schlossherrinnen gleich, die am Gürtel Ringe mit aneinander gereihten Schlüsseln tragen. Unsere Kinder haben einen platten Hinterkopf, dunkle Haut, dunkles Haar und schwarze Augen mit weit aufgerissenen Pupillen wie Puppen. Unsere Kinder sind Klone: die männlichen sind kleine Männer, Abgüsse ihrer Väter, die weiblichen sind kleine Frauen, Abgüsse ihrer Mütter.
    Lebensmittel kaufen wir bei
Basis, Aldi, Lidl, Dirkvandebroek
. Dort besorgen wir unsere Vorräte billig und in großen Mengen. Im Unterschied zu ihren Läden sind unsere schmutzig. In unseren kaufen wir Fleisch, das in großen Plastikfässern in blutiger Salzlake schwimmt. Unsere Fischläden stinken nach Fisch. Unsere Metzgereien stinken nach Blut. Wir stöbern, wühlen, schnuppern, betasten, lauschen, kaufen ein, besorgen, schleppen nach Hause – unser ganzes Leben dreht sich um den Basar.
    Unsere Siedlungen erinnern an Oasen, sie decken alle unsere Bedürfnisse. Es gibt Kindergärten und Schulen für unsere Kinder, ein Postamt, eine Fahrschule, eine Tankstelle, einen Call-Shop, von dem wir billig die
Unsrigen
anrufen, eine Reinigung, einen Waschsalon, einen Friseurladen, in dem
Unsrige
den
Unsrigen
die Haare schneiden, einen Coffeeshop, in dem unsere Jungs Haschisch kaufen, die »Turkse Pizza«, um die sich unsere Kinder versammeln, unser Gebetshaus und zwei, drei Kneipen, in die unsere Männer einkehren. Auch haben sie Kneipen. Das ist dann ihr Territorium. Unsere Zonen sindvoneinander getrennt. Touristen kommen nie in unsere Siedlungen, es sei denn, sie verirren sich. Auch die Leute von den Grachten kommen nicht hierher, sie sagen, sie hätten kein
lowlife
-Visum, und was sollten sie hier auch, wo es nichts gebe außer uns.

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