Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
meine kleine Serbischlehrerin, meine kleine Bosnischlehrerin«, sagte er wie zu einem Kind.
Ich atmete kaum.
»Was mache ich bloß mit Ihnen,
drugarica
? Sagen Sie’s doch. Sie haben sich in sich verkrochen, halten still, haben einen Schutzpanzer angelegt, sich in eine Schildkröte verwandelt. Jetzt hocken Sie in Ihrem Häuschen, und keiner kann Ihnen was antun. Sie lugen aus ihrer unsichtbaren Burka wie eine muslimische Braut.«
Igor verstummte, machte einige Schritte, drehte sich zu mir um, nahm aus der Hosentasche eine Rasierklinge. Ich erstarrte. Er kam auf mich zu, packte meine rechte Hand am Gelenk und drückte behutsam die Klinge ins Fleisch. Schnell machte er einen kurzen, nicht tiefen Schnitt. Dann noch einen, und noch einen …
Ich spürte keinen Schmerz. Tränen liefen über mein Gesicht. Durch die Tränen beobachtete ich das Blut, das dünn an meinem Arm hinunterrann. Die blutigen Schnitte sahen aus wie ein natürliches Armband.
»Dies zur ewigen Erinnerung … Am linken Handgelenk die Armbanduhr, am rechten Ihr liebster Schüler Igor. Ich gehe jetzt,
drugarica
. By the way, der Polizeinotruf ist einseins-zwei«, sagte er, stand auf, nahm seinen Rucksack vom Boden und ging zur Tür.
Dann kam er zurück und löste mit einem schnellen Ruck den Klebestreifen von meinem Mund, den er jetzt mit seiner Hand zuhielt. Ich stöhnte.
»Psssssst«, beruhigte er mich. Er zog langsam die Hand weg, beugte sich herunter und gab mir einen leichten Kinderkuss, wobei er mit den Lippen meine Tränen auflas.
»Noch haben Sie die Chance, etwas zu sagen,
drugarica
.«
Ich schwieg. Igor kam meinem Gesicht nahe und sagte ruhig, fast flüsternd:
»Und was, wenn ich das asshole war, das Sie bei Draaisma verpetzt hat? Was würden Sie dazu sagen? Ich könnte es auch gewesen sein. Ich hasste Ihre Selbstsicherheit, Ihre verlogenen Zweifel, Ihre Gekränktheit, die eigentlich nicht gerechtfertigt war, Ihre laue Teilnahme an allem. Ja, vielleicht war ich das! Denn auch ich bin inzwischen zum Terminator geworden. Wir alle laufen mit aufeinander gepressten Kiefern in der Weltgeschichte herum wie Schwarzenegger! Mörder, Verbrecher, unschuldige Menschen, Opfer, Überlebende, Flüchtlinge, diejenigen, die zu Hause geblieben sind, wir, die wir hier sind – wir alle sind nicht mehr dieselben Menschen. Dieser Krieg hat uns alle kaputtgemacht, auf die eine oder auf die andere Weise. Kein normaler Mensch kommt unbeschädigt aus einem Krieg heraus. Sie hingegen schienen so weiß zu sein, so heil wie eine Porzellantasse, ich musste Sie einfach zerbrechen, etwas aus Ihnen herausquetschen, einen Schimmer des Mitgefühls, eine Regung des Erbarmens, irgendetwas …«
Igor sah mich an mit seinem dunklen, schrägen Blick, als wöge er meine Seele. Ich schwieg.
Als er wegging und die Tür hinter sich zuschlug, füllte sich das Zimmer mit einer drückenden Stille. Ich saß steif da und lauschte. Dann würgte ich und spuckte eine imaginäre Kugel aus, die wer weiß wie lange in meinem Hals gesteckt hatte. Ein lauter Schrei entwich meiner Kehle. Es war vermutlich der Ton, den er die ganze Zeit aus mir herausholen wollte. Aber Igor war nicht mehr da, um ihn zu hören.
2.
Nachdem Igor gegangen war, blitzte vor meinen Augen ein Bild aus dem ersten Schuljahr auf. Unsere Lehrerin schickte die Schüler zur Strafe nicht in die Ecke, sondern hinter die Tafel. Damals standen die Schultafeln auf einem Holzgestell.
Hinter der Tafel
war der symbolische Ort der Scham und der Buße.
Ganz hinten in meinem Bild stand ein kleines Mädchen, das die Lehrerin zur Strafe hinter die Tafel verbannt hatte. Zwischen den hölzernen Stelzen sah man die etwas gespreizten Beine des Mädchens mit weißen Kniestrümpfen und schwarzen Lackschuhen mit Spangen. Die Klasse hätte das Mädchen völlig vergessen, wäre nicht plötzlich ein leises Geräusch zu hören gewesen. Wir wurden still, atemlos sahen wir zu, wie ein dünner Urinstrahl auf den Holzboden plätscherte. Wir starrten lange auf die kleine goldgelbe Lache zwischen den Füßen des Mädchens, die sich langsam einen Weg bahnte und auf die Schulbänke zukroch.
Jetzt lief diese Szene im Großformat und in Zeitlupe vor meinen Augen ab. Der kleine Körper des Mädchens war durch die Tafel verdeckt, und ich konnte nur den Strahl sehen, der auf den Boden platschte und in tausend goldene Tropfen zerspritzte … Auf einmal merkte ich, dass ich nass war. Warmer Urin lief meine Beine hinunter. Eine Weile saß ich wie
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