Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
wäre Ihre Lehrerin geworden. Diese Granate hat aus uns allen Arschlöcher gemacht, aber Sie meinen immer noch, ein kleineres Arschloch zu sein. Sie klammern sich an einen winzigen augenblicklichen Vorteil wie an ein Gesetz Gottes …
Sind Sie jemals auf den Gedanken gekommen, dass Sie uns die ganze Zeit quälten? Dass Sie Ihre Schüler zwangen, sich zu erinnern, während die sehnlichst alles vergessen wollten? Dass die Gefühle vortäuschten, nur um es Ihnen recht zu machen? So wie die Papuaner sich kannibalische Rituale ausdachten, nur um den Anthropologen gefällig zu sein. Im Unterschied zu Ihnen haben Ihre Studenten dieses Land lieb gewonnen. Flach, feucht und nichts sagend, besitzt Holland doch etwas, was andere Länder nicht haben. Es ist ein Land des Vergessens, ein Land ohne Schmerzen. Hier verwandeln sich Menschen aus eigenen Stücken in Amphibien, sie nehmen die Tarnfarbedes Sandes an und stellen sich tot wie die fucking Amphibien. Dabei wollen sie nichts anderes, als sich tot stellen. Die holländische Ebene ist wie gutes altes Löschpapier, sie saugt alles auf: die Erinnerungen, den Schmerz, den ganzen crap …«
Als sei er müde geworden, hielt Igor inne. Er griff zu Šenoas Buch und blätterte abwesend darin. Über meine Wangen liefen Tränen. Ich wusste nicht, ob aus Erniedrigung, ob aus Selbstmitleid, ob wegen der Tragik oder der Komik der Lage, in der ich mich befand … Mein Gott, dachte ich, er ist ein erwachsener Mann, er ist doch die Person, die mir in diesem Augenblick vertrauter ist als je eine in meinem Leben, und ich bringe es nicht fertig, ihm das zu sagen. Selbst wenn mein Mund nicht zugeklebt wäre, hätte ich es nicht geschafft, ein sinnvolles und treffendes Wort hervorzubringen.
Als hätte er meinen Gedanken aufgefangen, drehte sich Igor zu mir. »Das Barometer Ihres Herzens fällt, und Ihre Augen sind mit Tränen gefüllt«, zitierte er.
Zwischen uns war eine unsichtbare Wand aus Eis. Ich fragte mich, ob er wusste, dass ich in diesem Augenblick nur noch den Drang spürte, mit der Stirn diese Eismauer zu durchbrechen. Denn ich brauchte Hilfe. Etwas stimmte nicht mit meinem Herzen, aber die Verletzung vermochte ich nicht abzuschätzen. Verzweifelt suchte ich nach Schutz, nach einem warmen Schoß, um mich hineinzukuscheln, dort meinen Schmerz zu tilgen, zu mir zu kommen …
»Was mache ich bloß mit Ihnen,
drugarica
?«, sagte er theatralisch und warf das Buch auf den Boden.
»Was bloß? Aber keine Angst. Don’t you worry. Ihre kleine Literatur lohnt keine große Protestgeste. Eigentlich tun Sie mir Leid. Sie unterrichten kleine Literaturen, und die sind Ihnen in der letzten Zeit auch noch weggeschrumpft. Sie schleppendieses Bündel mit sich herum, es ist das Einzige, was Sie besitzen. Jahre haben Sie darauf vergeudet, das war schließlich Ihr Beruf, und jetzt sollen Sie alles über Bord werfen? In der Tat, was konnten Sie anderes tun, als versuchen zu retten, was zu retten war. Im Stile von: Liebe Kinder, alles ist kaputtgegangen, kommt, räumen wir gemeinsam die Trümmer auf, spielen wir ein bisschen Archäologie …
Aber haben Sie sich mal gefragt, was denn so fucking Wichtiges kaputtgegangen ist? Ein Haufen Bücher in einer Sprache, die fast keiner braucht. Alle Ihre Šenoas, Gjalskis, Kumičićs, alle diese Lazarevićs, Šantićs und Glišićs, alle Ihre Župančičs, Vorancs und Cankars, das waren doch alles dörfliche Aufklärer. Alles, was diese literarischen Bauern geschrieben haben, hatte nur einen Zweck: dem Volk das Lesen und das Schreiben beizubringen. Die echte Literatur dient nicht dazu, sie wendet sich doch an gebildete Leser, right? Als Flauberts
Madame Bovary
erschien, war Zagreb ein Dorf mit 16 675 Einwohnern, ganze 16 675! Die große europäische Literatur – Goethe, Stendhal, Balzac, Gogol, Dickens, Dostojewski, Flaubert, Maupassant –, alles war schon da, als unsere lokalen assholes sich anschickten, die ersten Buchstaben zu lernen. Als Dostojewskis
Schuld und Sühne
herauskam, waren achtzig Prozent der Einwohner Kroatiens Analphabeten.
Get real,
drugarica
, kommen Sie zur Vernunft, sehen Sie sich um. Ihr Klassenzimmer ist leer! Ihre Schüler sind über Sie hinausgewachsen, sie sind in die Welt hinausgegangen, sie besitzen eine andere Werteskala, haben Fremdsprachen gelernt, lesen in diesen Sprachen, wenn sie lesen, und wenn das überhaupt wichtig ist. Sie hingegen sind eine ›Streiterin für die Volksaufklärung‹ geblieben, für die es ›keine
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