Das Missverstaendnis
doch heute noch sehen?«
»Selbstverständlich, mit dem größten Vergnügen … Um halb sieben Uhr bin ich frei.«
»Geht es nicht früher?«
»Das ist leider unmöglich.«
Sie wußte, daß er nichts anderes sagen konnte: Er war nicht allein; sie hörte das entfernte Gemurmel einer Unterhaltung; und doch ließ Yves ’ Kälte sie erschauern, verletzte sie.
»Dann also um halb sieben«, stimmte sie zu. »Sollen wir uns in der Nähe Ihres Büros treffen?«
»Ja.«
Mit leiser Stimme fügte er rasch hinzu:
»Square de l’Opéra. Da ist eine kleine Bar, wo nicht viel los ist, dort kommt kaum jemand vorbei. Der Portwein dort ist ausgezeichnet. Es liegt meinem Büro direkt gegenüber. Sind Sie einverstanden?«
»Ja, sehr gern.«
»Gut, dann also bis später.«
Sie hörte den kurzen Klingelton, der ihr Gespräch beendete, und legte den Hörer langsam wieder auf die Gabel. Das Herz war ihr plötzlich schwer geworden, ein Gefühl von Enttäuschung und unerklärliche Beunruhigung überkamen sie. Liebte er sie? Ihre Hoffnung war so stark, daß sie sie für Gewißheit halten wollte. Und zudem liebte sie ihn ja so sehr, ach! …
Es war vier Uhr. Sie begann, sich anzuziehen, langsam, gewissenhaft, und allein schon die Art, wie sie ihr Gesicht und ihren Körper unendlich lange prüfend im Spiegel betrachtete, verriet, wie sehr sie liebte. Dennoch war sie zu früh fertig. Sie nahm ein Buch, blätterte die Seiten durch, ohne zu lesen, und legte es wieder weg; dann begann sie erneut, ihre rebellischen Locken zu glätten, und entschied sich für einen anderen Hut. Schließlich, um Punkt sechs Uhr, verließ sie das Haus.
Als sie am Ort des Rendezvous ankam, zeigte die Uhr kurz nach halb sieben – die Straßen waren verstopft gewesen. Doch Yves war noch nicht da. Sie setzte sich an einen kleinen, versteckten Tisch in einer Ecke. Es war eine winzige, sehr saubere englische Bar, in der eine ehrsame, ernste Atmosphäre herrschte; sie war fast menschenleer; nur an einem Nachbartisch saß ein Pärchen, die beiden sahen sich schweigend an und rauchten.
Denise bestellte einen Portwein und wartete. Sie schämte sich ein wenig, war nervös; als der Barmann ihr einige Illustrierte brachte, errötete sie zornig; er hatte ihr einige diskrete Blicke zugeworfen, und ein blasierter und mitleidiger Ausdruck hatte auf seinem Gesicht gelegen, als würde er denken: ›Noch so eine.‹
Schließlich erschien Yves. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Leise und tonlos sagte sie:
»Wie geht es Ihnen?«
»Denise«, sagte er einfach. Doch er kam ihr verändert vor; überschwenglich küßte er ihr die Hand. »Da sind Sie endlich.«
Sie lächelte.
»Freut Sie das? Sie schienen so kalt zu sein, vorhin am Telefon.«
»Haben Sie denn nicht verstanden«, sagte er überrascht, »daß ich nicht allein war?«
»Doch, aber …«
Er setzte sich und begann sie auszufragen – über ihre Reise, ihre Gesundheit, mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit und Glück in den Augen. Sie aber betrachtete ihn mit heimlicher Traurigkeit; er schien müde zu sein, gealtert, hatte Schatten unter den Augen und einen bitteren Zug um den Mund; es fehlte ihm etwas Undefinierbares – jene Frische, jene Eleganz, die die Männer verlieren, sobald sie nicht mehr ständig auf sich achten; sie rief sich seine gepflegte Erscheinung in Hendaye in Erinnerung, er hatte ausgesehen wie ein junger Engländer, wenn er in den Speisesaal kam, frisch gebadet, rasiert und in einem gutsitzenden Smoking.
Unterdessen fragte er:
»Wollen Sie mit zu mir kommen?«
»Ich würde gern, aber ich muß um sieben Uhr zurück sein … Mein Mann ist um diese Zeit immer zu Hause …«
»Ach, dann nicht«, sagte er bedrückt.
»Kommen Sie immer erst so spät aus dem Büro, Yves?« fragte sie.
Er machte eine müde Handbewegung.
»Ich kann es manchmal einrichten … aber das ist schwierig …« Und mit einer etwas gezwungenen Heiterkeit setzte er hinzu:
»Aber morgen, Denise, morgen habe ich frei, den ganzen Tag … Es ist Samstag, Wochenende … Sie werden doch zu mir kommen, nicht, Liebste?«
»Wie können Sie das fragen? Natürlich …«
Es war fünf vor sieben. Yves bestellte ein Taxi. Im Auto zog er Denise in seine Arme, drückte sie leidenschaftlich an sich.
»Mein süßes kleines Mädchen …«
Sehr blaß, mit geschlossenen Augen genoß sie seine Umarmung. Er überschüttete ihre Wange, ihren Hals, die zarte Haut ihrer Handgelenke mit wütenden Küssen … Dann ließ er den Fahrer vor einem
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