Das Missverstaendnis
Geste.
»Warum? Ich weiß nicht … Das Leben heute ist zu hart, das ist es vielleicht vor allem … Die Energien, die man früher dazu nutzte, um sich in Leidenschaften, Lieb schaften zu verschwenden, werden heute für tausend alltägliche, stumpfsinnige, sterbenslangweilige Scherereien gebraucht … Um zu lieben, wie diese Leute geliebt haben, muß man viel Zeit haben und reich sein … Ihr Leben war so sorglos … Es war ruhig und sicher, und sie waren großzügig, heiter … Sie brauchten Gefühle, und wir brauchen immer nur Erholung. Und außerdem braucht die Liebe vielleicht mehr, als man zugeben will, marmorne Paläste, weiße Pfauen und Schwäne.«
Sie beugte sich zu ihm hinunter, umfaßte seine Schultern.
»Yves, lieben Sie mich?« fragte sie, und ihre Stimme klang gar nicht wie die einer verliebten kleinen Frau, die murmelt: »Liebst du mich?«, wie eine Bekräftigung, weil sie sich der Antwort schon sicher ist; diese Stimme war vielmehr voller Angst und Pein und doch auch voller Hoffnung. Er antwortete nicht. Endlich sagte er:
»Wozu sind Worte gut, Denise? Worte bedeuten nichts.«
»Sagen Sie sie mir dennoch, ich bitte Sie … Ich will es wissen.«
»Aber das ist es ja gerade, ich frage mich, ob ich überhaupt lieben kann – lieben, wie ich es mir wünsche«, sagte er seufzend. »Ich fühle aber, Denise, daß Sie mir unendlich teuer sind. Das Verlangen, das ich empfinde, ist gemischt mit unendlicher Zärtlichkeit …«
»Aber das ist es doch, es ist Liebe«, stammelte sie flehend, mit eingeschnürter Kehle, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet.
Er erwiderte einfach:
»Wenn Sie glauben, daß es Liebe ist, dann liebe ich Sie, Denise.«
Zum erstenmal spürte sie, daß es zwischen ihren Herzen ein Hindernis gab, wie eine unbestimmte, aber unüberwindliche Grenzlinie. Doch sie sagte nichts; lieber schloß sie die Augen, lieber vergaß sie sich, wollte nichts mehr sehen, nicht mehr sicher sein, ihn nur nicht verlieren, nur das nicht, ihn nur nicht verlieren. Und als er begann, sie zu streicheln, wischte sie sich verstohlen zwei dicke Tränen aus den Augen, die zeigten, wie schwer ihr Herz geworden war.
13
A n einem Sonntag im Dezember aßen Denise’ Mutter, Madame Franchevielle, und ihr Cousin Jean-Paul Franchevielle, ein gutaussehender junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, mit frechen Augen und rotem Mund, bei den Jessaints zu Mittag. Es war ein schöner Wintertag, klar, eiskalt und sonnig; das Speisezimmer wurde unvermittelt von einem lebhaften rötlichen Sonnenstrahl erhellt, der auf den Wänden den Widerschein der Kristallgläser tanzen ließ. In seinem Licht erschien Denise blaß und angespannt, und über ihr Gesicht huschten versteckte Schatten, wie man sie gelegentlich bei jungen Leuten beobachtet, Schatten, die die dunklen Lider hervorhoben und die Mundwinkel markierten – wie ein diskreter Hinweis auf den Ort zukünftiger Falten.
»Fehlt dir etwas, Denise?« fragte Madame Franchevielle.
Mit neunundvierzig Jahren war Denise’ Mutter noch immer eine hinreißend schöne Frau, die keine Angst davor hatte, sich abends unter dem gleißenden Licht der Lüster im Ballkleid mit bloßen Armen neben ihrer Tochter zu zeigen. Selbst heute, im vollen, unbarmherzigen Sonnenschein, wirkte sie, geschickt geschminkt, mit schönen, schimmernden Zähnen, schwerem, glänzendem Haar, ge sund und gutgelaunt, frischer als die Jüngere. Denise liebte sie sehr, denn sie war eine aufmerksame, kluge und gute Mutter, die ihre überbordende Zuneigung unter einer leicht distanzierten, spöttischen Haltung verbarg. Sie war wenig mitteilsam und kaum je zärtlich gewesen; doch auf dem Grund ihres Gedächtnisses fand Denise die Erinnerung an neun Scharlachnächte in ihrer frühen Kindheit, eine Zeit, in der sie zwischen delirierenden Träumen und Fieberschüben die ganze Zeit den auf sie gerichteten Blick ihrer Mutter wahrgenommen hatte. Dieser Blick hatte sie miteinander verbunden; in diesem Blick hatte der hartnäckige Wille gelegen, sie zu retten, und es war diese Hartnäckigkeit gewesen, die sie schließlich dem Tod entriß. Als junge Witwe und hübsch, wie sie war, hatte Madame Franchevielle damals – wie sicher auch heute noch – diskrete und stilvolle Affären gehabt, von denen Denise ahnte, ohne daß sie Genaueres darüber erfahren wollte. Die Hochachtung für ihre Mutter wurde durch diese Abenteuer auch nicht geschmälert, im Gegenteil: Sie machten eine Frau par excellence aus ihr, die alles weiß, alles
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