Das Missverstaendnis
sieht und alles versteht. Madame Franchevielles Scharfblick war sprichwört lich; nie war es ihrer Tochter gelungen, ihr irgend etwas zu verheimlichen. Auch heute machte sie die Frage ihrer Mutter nervös, und sie errötete, ohne ihr Antwort zu geben.
»Ich hoffe, du machst mich nicht zum zweitenmal zur Großmutter!« rief Madame Franchevielle provozierend.
»Nein, nein, bestimmt nicht, Maman«, sagte Denise mit einem kleinen Lächeln, das so traurig war, daß Madame Franchevielle unverzüglich und kunstfertig das Thema wechselte.
Als der Kaffee serviert wurde, verließen die Gäste das Speisezimmer und begaben sich in den Salon nebenan, der auch als Bibliothek diente und mit geschmackvollen Stichen, Blumen und seltenen Büchern geschmückt war. Jean-Paul erhob sich, um Denise einzuschenken.
»Es steht dir, die Haustochter zu spielen«, sagte Denise mit einem kleinen Zucken der Lippen, das ein Lächeln vorstellen sollte.
Während Jean-Paul geschickt mit den Tassen hantierte, raunte er ihr zu:
»Jetzt bin ich mir sicher.«
»Wie bitte?«
»Du hast einen Liebhaber, meine Beste … Dieser arme Jacques, er ist …«
Er wies mit einer jungenhaften Geste auf den Rücken Jessaints. Denise wurde blaß.
»Schon gut, reg dich nicht auf … Aber es steht dir ins Gesicht geschrieben, Denise. Es läuft nicht gut zwischen euch, oder ermüdet die Liebe dich etwa?«
»Sei still, ich bitte dich, sei doch still!« wiederholte sie.
Es lag eine solche Mattigkeit in ihrem Blick, daß Jean- Paul sie mit dem Ausdruck aufrichtigen und zärtlichen Mitgefühls betrachtete.
»Arme kleine Denise … Du leidest … Du mußtest ihn also zum Hahnrei machen – und warum hast du nicht mich genommen, damals, vor einem Jahr, warum hast du mich nicht erhört?«
Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und rief sich die Szene ins Gedächtnis, als Jean-Paul ihr mit schülerhafter Inbrunst halb im Spaß, halb mit echter Leidenschaft Liebeserklärungen gemacht und sie schließlich von Tisch zu Tisch, von einer Ecke zur anderen verfolgt hatte; doch sein Ungestüm hatte bald alles Aggressive verloren und sie nur noch an die Blindekuhspiele ihrer Kindheit erinnert.
»Mein armer Jaja«, sagte sie im Ton eines kleinen Mädchens. »Ich – dich erhören? Du warst so grob und so naiv wie ein junger Dorfcasanova.«
»Das kam dir nur so vor, weil ich dir nicht ewige Liebe geschworen und mein kleines Gefühl nicht mit Mond und Sternen angereichert habe. Denise, meine Liebe, du bist die letzte Romantikerin, die es gibt. Worte bedeuten dir alles. Worte werden dich noch zugrunde richten. Aber Worte bedeuten nichts.«
»Du glaubst das also auch?« sagte sie verblüfft. »Aber du bist noch jung! Warst du in mich verliebt?«
»Zuallererst wollte ich dich, und dann habe ich immer etwas für dich übrig gehabt, hier drinnen, aber ich weiß nicht, ob das Liebe ist«, sagte er offenherzig.
»Immer dasselbe«, murmelte sie mit seltsam veränderter Stimme, »Zärtlichkeit, Verlangen … irgendein Gefühl … Warum sagt man nicht einfach: Liebe? Hat man Angst vor dem Wort?«
»Und vor der Sache, meine gute Denise … Tja, seit dem Krieg weiß man nicht mehr, was das ist … Weißt du, als ich dir nachgelaufen bin, hatte ich dich wirklich sehr gern, wie du es nennen würdest, und dann, als du mir eine Abfuhr erteilt hast, habe ich geheult wie ein altes Weib, weißt du, aber die ganze Zeit war ich mir sicher, daß ich darüber hinwegkommen würde, weil es ja nicht an Frauen mangelt, mit denen man sich trösten kann … Wir wissen das von Anfang an, wir anderen …«
»Wir wissen es nicht.«
»Du und ein paar andere einzelne Exemplare, die fatalerweise dazu bestimmt sind zu leiden! Ihr haltet uns für Grobiane, weil ihr uns die Ewigkeit auf einem silbernen Tablett anbietet und wir die Stirn besitzen, sie zu verweigern. Aber ihr seid die Ausnahme. Die anderen Frauen praktizieren seit langem, was schon Baudelaire sagte, jedenfalls so ähnlich: ›Sei charmant, schweig still und mach dich aus dem Staub.‹«
Er spielte mit einem Löffel und berührte dabei sanft Denise’ Hand:
»Aber egal, wenn du jemals jemanden brauchst, der dir hilft, über die endlosen Stunden der Dämmerung hin wegzukommen – schön ausgedrückt, nicht? –, dann denke an Jaja … Jetzt aber genug davon! Ich wende mich nicht mehr an Denise, sondern an Madame Jessaint, die Frau des schwerreichen Jessaint, Jacques … Erinnerst du dich, o Denise, wie wir einst miteinander spielten, wie
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