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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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frei sei, daß sie sich ihre Tage für ihn einteilen werde; während er von seinem Büro, seinen Geschäften in Atem gehalten wurde, den tausend kleinen Angelegenheiten eines armen Junggesellen, von denen er ihr nichts erzählen wollte. Es war besser, ihre Treffen in letzter Minute zu vereinbaren, als das Risiko einzugehen, daß sie durch irgendein unvorhergesehenes Ereignis gestört würden. Diese Bedenken waren sicher berechtigt, doch für sie war das tägliche Warten auf seinen Anruf eine Qual, eine langsame und raffinierte Folter, etwas, was sie ihm nicht erklären konnte und was er doch hätte verstehen müssen. Und genau dieses Unverständnis bewies auf das schrecklichste, daß ihnen jene sonderbare empfindsame Faser fehlte, die zwei Menschen miteinander verbindet, sie auf geheimnisvolle Weise eint und die Ursache dafür ist, daß sie Freud und Leid miteinander teilen; ja, etwas schwer Faßbares, Unbeschreibliches fehlte zwischen ihnen – vielleicht ganz einfach die Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruht.
    Drei Uhr … Und doch fühlte sie sich noch leicht, zuversichtlich. So war es immer. Sie nahm ein Buch, überflog neugierig ein paar Seiten. Um zehn nach drei begriff sie schon nichts mehr von dem, was sie las; die Worte hatten jede Bedeutung verloren; es waren nur noch kleine schwarze Zeichen auf weißem Papier, die vor ihren Augen tanzten; mehrmals hintereinander las sie: »Der Mond, hoch am Himmel stehend, schien die Spitze eines blassen Lichtkegels zu sein …« »Der Mond, hoch am Himmel …« »Der Mond …« Sie verstand es nicht und schlug kurzerhand das Buch zu. Dann nahm sie eine Feile zur Hand und begann, sich ausdauernd die Nägel zu polieren, wie hypnotisiert von ihrer glänzenden Oberfläche. Doch ihr Geist hörte nicht auf umherzuschweifen; sie stand auf, ging in den Flur und blieb dort zögernd stehen. Nein, wirklich, sie wußte nicht, was sie machen sollte. Sie hatte nichts zu tun, nichts, gar nichts … Sie öffnete die Tür zum Kinderzimmer. Francette saß in einem hohen Stuhl neben der Engländerin und schnitt Bilder aus. Einen Moment lang drangen auf fast unmerkliche Weise die Stille und die Helligkeit dieses Zimmers in Denise ein und besänftigten sie. Francette plapperte mit einem hohen Vogelstimmchen vor sich hin; das Feuer knisterte im Kamin, die schwarze Katze leckte sich, und ihr Schnurren klang wie siedendes Wasser. Denise setzte sich neben ihre Tochter und strich ihr übers Haar. Doch plötzlich sprang sie nervös auf:
    »Haben Sie das Telefon klingeln gehört, Miss?«
    »Nein, Madame«, erwiderte die Engländerin in ruhigem Ton.
    Denise wurde dennoch unruhig. Sie sagte sich, daß sie hier, im Kinderzimmer, das Klingeln nicht hören könne, daß das Geräusch erstickt würde von den schweren Vorhängen und die Dienstboten zuviel zu tun hätten, um ihr Bescheid zu geben. Sie konnte nicht stillsitzen; jedesmal wenn ein Autobus auf der Straße vorbeifuhr, wenn Francette die Tiere aus Kopenhagener Porzellan klirren ließ, die auf dem Tisch standen, fuhr sie zusammen und spitzte die Ohren. Unvermittelt stand sie auf und lief rasch hinüber in ihr eigenes Zimmer. Diesmal war sie sicher.
    »Hallo, hallo …«
    Es war eine entfernte Verwandte. Man mußte banale Fragen über sich ergehen lassen, mit geheuchelter Teilnahme selbst Fragen stellen, sich über belanglose Dinge aufklären lassen. Endlich konnte sie zitternd wieder auf legen. Viertel vor vier … Yves hatte vielleicht versucht, sie zu erreichen … Auf leisen Sohlen ging sie zu einem niedrigen Sessel zwischen Fenster und Kamin und ließ sich darin nieder. Was für eine Stille! … In der leeren Wohnung hörte man das kleinste Geräusch, die Möbel knarzten, ein Diener ging im Speisezimmer auf und ab; unten fiel das schwere Hoftor mit einem dumpfen Schlag ins Schloß … Draußen, auf der Avenue d’Iéna, wo es sonntags so friedlich zuging wie auf irgendeiner Provinzstraße, fuhr ein Auto vorbei … Dann breitete sich erneut Stille aus, betäubend, tödlich, die besondere Stille der Pariser Sonntage in den Vierteln der Reichen.
    Mit hochgezogenen Knien, den Kopf auf die Hände gelegt, starrte Denise ins Feuer, ohne zu denken, wie man es manchmal tut, wenn man einschlafen will und sich zwingt, ruhig zu werden, mit leerem Kopf, ins Leere starrend, ohne nachzudenken – vor allem das, nur kein Gedanke! … Und ganz allmählich, langsam, fast gegen ihren Willen, wandte sich ihr Gesicht dem schattigen Winkel zu, in dem der

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