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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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Telefonapparat stand. Sie schien diesen toten Gegenstand anzuflehen wie einen kleinen, höhnischen und schweigsamen Gott aus Holz und Metall. Schon nach vier … Er ruft nicht an … Er hat es vergessen … Nein, das war unmöglich, er kann es nicht vergessen haben … Aber, du lieber Himmel, warum ruft er dann nicht an? Warum? Ach! Die Qual, hier sitzen bleiben zu müssen, mit eiskalten Händen, langsam schlagendem Herzen, das ganze Leben abhängig von diesem entsetzlichen kleinen Ding, das stumm und spöttisch in seiner dunklen Ecke glänzt … Die Qual, in dieser Stille vergeblich auf das Klingeln des Apparats zu lauschen. Halb fünf … Die Standuhr schlug. Denise fuhr auf, die Wangen bleich … Dann begann sie zu weinen, leise und verzagt. Und plötzlich ertönte lebhaft, klar, anmaßend das Klingeln des Telefons.
    Sie griff nach dem Hörer und bemühte sich, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Vielleicht war es jemand anders. Aber nein, nein, es war Yves’ Stimme, diese immer etwas belegte, tiefe Stimme.
    »Denise?«
    »Liebster!«
    »Denise, ich habe viel zu tun … Wir können uns erst in einer, nein besser in anderthalb Stunden treffen. Verzeihen Sie mir.«
    »Am Sonntag?«
    »Es geht nicht anders.«
    Sie nahm eine winzige Verhärtung seines Tons wahr und fühlte sich sofort geschwächt.
    »Wann immer Sie wollen. Bei Ihnen?«
    »Nein, nicht bei mir.«
    »Warum?«
    »Ich erkläre es Ihnen später.«
    »Wo dann?«
    »Sind Sie allein?«
    »Ja.«
    »Ich komme bei Ihnen vorbei.«
    »Gut«, sagte sie kalt, enttäuscht, argwöhnisch.
    Schon war die Verbindung unterbrochen. Und doch wurde sie von einer großen Welle der Ruhe überschwemmt. Plötzlich erinnerte sie sich daran, daß sie tausend Dinge zu tun hatte; sie hatte die Rechnungen eines Dieners nicht nachgeprüft; man hatte ihr einen Hut geliefert, den sie noch nicht anprobiert hatte; man mußte Spitzen auswählen für die vor kurzem bestellte Wäsche … Diesen diversen Beschäftigungen ging sie etwa eine halbe Stunde lang mit unbeschwertem Herzen nach; dann machte sie sich daran, sich das Haar aufzustecken, sich zu pudern, Hals und Arme an den Stellen zu parfümieren, wo er sie am liebsten küßte; sie zog das Hauskleid an, das ihm am besten gefiel, ordnete persönlich die Teetassen auf dem runden Tischchen an, goß den Portwein in die kleine Karaffe aus dunklem, rubinrot schimmerndem Glas, arrangierte die Blumen in ihren Vasen, legte Zigaretten in die grün-schwarze Lackschachtel aus Moskau, die er so liebte, und schob das Tischchen mit Tassen und Zigarettenschachtel nah ans Feuer, in den blaßrosa Lampenschein.
    Und dann begann sie erneut zu warten. Das Warten war ein Teil ihres Lebens. Das Warten auf seinen Anruf, das Warten auf seinen Besuch oder auf die Stunde ihrer Zusammenkunft … Ach! Welche schreckliche Qual war es zu lieben. Und warum? Es waren nicht die Liebkosungen, die sie mit ihm verbanden; ihre Sinnlichkeit war anders als die der meisten jungen Frauen, und in seinen Armen war sie kaum jemals glücklich, da sie stets von einer unbestimmten, nagenden und betäubenden Furcht gepeinigt wurde wie von einem Übel, das man in seinem Innersten spürt, ohne es benennen zu können. Und doch geschah es zuweilen, trotz dieser Beunruhigung – wie selten allerdings! –, daß sie, wenn sie auf seinen Knien saß und mit der Hand unter sein Hemd fuhr und das Herz fühlte, das dort schlug, durchdrungen wurde von einer fast überirdischen Ruhe … Und für diese seltene Minute des köstlichen Friedens der Liebe war sie bereit, alles zu erdulden. Jetzt wartete sie … Ihr Blick war starr, ihre Nerven wie taub; nur ihr Gehör lebte, aufs äußerste geschärft, und nahm die leisesten Geräusche der Straße wahr … Schritte näherten sich, liefen am Haus vorbei, entfernten sich … Ein Auto glitt langsam heran, hielt – nein, es fuhr wieder fort … Dann ertönte der dumpfe Lärm des Aufzugs und das helle Läuten der Glocke in der Etage über ihr … Warum ließ er sich soviel Zeit? Und wenn ihm etwas zugestoßen war? Täg lich sah man zerbeulte Taxis, die irgendwo in dieser Gegend mit anderen Autos zusammengestoßen waren … Und warum hatte er nicht gewollt, daß sie zu ihm kam? Ihre Phantasie vergrößerte, verzerrte die kleinsten Einzelheiten ins Monströse … Wer weiß? Vielleicht betrog er sie doch? Konnte man das wissen? Er hatte vielleicht noch eine andere Geliebte. Vielleicht war er ihrer längst überdrüssig geworden und zu einer früheren

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