Das Missverstaendnis
Geliebten zurückgekehrt … Oder er hatte eine neue Affäre angefangen. Sie stellte sich den Geliebten vor, wie er bei einer anderen lag, hörte ihn träge zu sich selbst sagen: ›Was soll’s, dann wartet Denise heute eben mal …‹ Sie zermarterte sich mit Vergnügen das Hirn, wie ein krankes Kind … Und dann kam der nächste schreckensvolle Gedanke … Ach! Er war immer in ihr, wie die Angst vor dem Tod, die im schwachen Menschenherzen lebt und in gewissen Stunden wach wird und hämisch lacht … Die Angst, daß er sie verließ … Nein, keine große Trennungsszene, wie man sie sich früher ausmalte … Man spielte sie kaum noch, nicht einmal mehr im Theater … Wozu all diese großen Worte für eine so kleine Sache? Heute geht man einfach eines schönen Tages davon, man kommt nicht mehr zum vereinbarten Treffen, und schon ist es aus, vorbei, man verschwindet … Das heißt »eine Frau fallenlassen « , und es ist sehr gut, sehr bequem, sehr liebenswürdig … Und unterdessen rücken die Minuten auf dem Zifferblatt vor, schnell, immer schneller, wie tückische kleine Nagetiere, die sich, jedes mit einem Fetzchen Leben im Maul, davonstehlen.
Denise wartete.
Lieben, ohne geliebt zu werden,
Rasten, ohne Ruhe zu spüren,
Warten an geschlossenen Türen,
Sind drei Dinge, die zum Sterben führen –
sagt man, so oder ähnlich.
14
D as ist es, mein Lieber«, sagte Jean Vendômois abschließend, »das ist mein Leben … Im Norden von Finnland, ohne jeden Kontakt zur zivilisierten Welt, am Rand des Polarmeers … Wie die Pioniere in Kanada, im letzten Jahrhundert … Neun Monate des Jahres ein Winter, den man sich hier einfach nicht vorstellen kann … Der Schnee … weiß, rein, die herrliche klare Luft … diese riesigen dichten Wälder, die unter der Schneedecke schlafen … kein Windhauch, kein Laut … nur die Glöckchen der Schlitten … Drei Monate Sommer, in denen die Sonne nie untergeht …«
»Ich sehe es vor mir«, sagte Yves, dessen Augen groß geworden waren beim Träumen.
Sie unterhielten sich nun schon seit dem Mittages sen; vor ihnen stand der Kaffee, den sie vergessen hat ten; zwischen ihren Beinen hob Pierrot seine spitze rosige Schnauze, mit dem immer gleichen Ausdruck eines lächelnden Schoßhündchens. Vendômois – klein, gedrungen, intelligente Augen in einem viereckigen, derben, gebräunten Gesicht, beugte sich vor.
»Mal es dir aus, mein Lieber, mal dir aus, wie es ist, weit weg von Paris, weit weg vom stumpfsinnigen, schweren Nachkriegsleben … Dort ist man absolut unabhängig … Und man fühlt, was man mit diesen zwei Händen hier macht, es ist echte Arbeit, man kann endlich etwas schaffen … Überleg nur mal, vor drei Jahren gab es in diesem Dorf zweiundzwanzig Pferde; heute sind es einhundert fünfundsiebzig … das ist wunderbar … Ach, mein Traum wäre es, dort eine Eisenbahnlinie aufzubauen, die das Dorf mit Haparanda verbinden könnte; noch sind wir gezwungen, unsere Produkte mit Hilfe von Pferden und Rentieren zu vertreiben … Die Eisenbahn, das wäre sicheres Geld, garantierter Erfolg, verstehst du?«
»Ob ich das verstehe?« rief Yves laut. »Das ist herrlich, lieber Freund!«
»Ja, herrlich … Ach, Yves, komm mit mir … Was soll hier aus dir werden? Du vegetierst ja nur, kommst nie aus deinem Alltagstrott heraus … Ist das wirklich etwas für dich, dieses Büro, das kleine, enge Leben eines Angestellten? … Dort oben bist du dein eigener Herr … Und diese Fabrik, weißt du, das ist noch gar nichts, das ist etwas ganz Kleines, aber es wird größer werden, immer größer … Es ist wunderbar, so etwas wachsen zu sehen, Jahr für Jahr, wie ein Kind … Ich erkläre es dir … Wir stellen Streichhölzer her, wie du weißt … Diese unerschöpflichen Wälder, die man für fast nichts bekommt – man kauft sie der Regierung ab, die das ausländische Geld braucht –, diese Wälder liefern alles, bis zum Holz für die Transportkisten, verstehst du?«
Er nannte Zahlen, und Yves hörte mit glänzenden Augen zu.
»Fünf Jahre unermüdliches Arbeiten, und du bist wieder so vermögend wie früher … Du weißt, daß ich nie übertreibe.«
»Ich weiß.«
Die beiden Freunde schwiegen eine Zeitlang.
»Wie ich dich beneide!« sagte Yves endlich.
»Komm mit …«
Der andere hob die Schultern, ohne zu antworten.
Jean Vendômois blickte ihn scharf an.
»Eine Frau, was?«
»Ja.«
»Was macht das schon, ist doch nur eine Kleinigkeit.«
»Sie leidet.«
»Pah! Wir müssen
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