Das Missverstaendnis
wir in fernen Kindertagen zusammen Marmelade stibitzten, wie ich am gesegneten Tag deiner Hochzeit den Brautführer spielte, wie ich …«
»Brauchst du Geld?«
»Man kann dir nichts verheimlichen.«
»Hast du eine Geliebte?«
»Nein, ein Auto … Das ist besser als eine Frau, aber es verschlingt genausoviel Geld, und Papa hat mich zum Teufel geschickt, als ich letzte Woche bei ihm anklopfte.«
»Du hast keine Geliebte?«
»Doch, aber sie kostet mich nichts, sie hat einen Mann.«
»Jean-Paul!«
»Was heißt Jean-Paul? Gebe ich Geld aus, macht man mir Vorwürfe, spare ich Geld, ist man auch nicht zufrieden!«
»Ist sie hübsch?«
»Aber sicher, sie ist schmal gebaut, dunkel, äußerst intelligent, mit einer langgezogenen Haube …«
»Wie bitte?«
»Einer Haube. Wußtest du nicht, daß Autos Motorhauben haben?«
»Du sprichst also von deinem Wagen?«
»Natürlich, wovon denn sonst?«
»Jean-Paul, ich gebe auf … Du bekommst zweitausend Francs. Und jetzt serviere uns bitte den Likör.«
Er ging, ohne ihr auch nur zu danken. Mit ihrer Kaffeetasse setzte sich Denise an ihren Lieblingsplatz, auf ein Sitzkissen am Feuer, wo sie in die rotzüngelnden Flammen schauen konnte. Die Stimme ihrer Mutter holte sie aus ihren Gedanken.
»Denise, schläfst du? Ich habe meinen Hut in deinem Zimmer gelassen. Kommst du mit mir?«
Im Zimmer umfaßte Madame Franchevielle die Schultern ihrer Tochter.
»Du machst so ein trauriges Gesicht, Liebes … Sag Maman, was dich bedrückt.«
»Ich kann nicht.«
»Kann ich dir helfen?«
»Nein, liebe Mutter, aber ich danke Ihnen trotzdem … Machen Sie sich keine Sorgen … Es geht noch … Sobald ich es wirklich nicht mehr ertragen kann, werde ich Ihnen vielleicht davon erzählen … Aber jetzt dringen Sie bitte nicht weiter in mich.«
Madame Franchevielle kniff ein wenig ihre hübschen, kurzsichtigen Augen zusammen, die bis auf den Grund des Herzens ihrer Tochter zu blicken schienen.
»Natürlich, Liebes«, versprach sie.
Fast drei Stunden blieb Denise allein. Madame Franchevielle war gegangen; und ebenso Jessaint, der noch Besuche zu machen hatte, wie er sagte.
»Jacques, der Mann von Welt«, sagte Denise ein wenig ironisch und mit jener leicht aggressiven Gereiztheit, mit der Frauen ihre Ehemänner betrachten, wenn ihre Geliebten sie unglücklich machen.
Doch sie hütete sich, ihm zu folgen oder ihn zurückzuhalten. Dann verabschiedete sie Jean-Paul, der noch eine Weile länger bei ihr geblieben war.
Ein letzter schräger Sonnenstrahl von der Farbe reifer Aprikosen glitt über den Salon und beleuchtete die kleine Uhr aus Elfenbein. Denise blickte zu dem hellen Zifferblatt. Am Vortag hatte sie Yves wie jeden Tag beim Abschied gefragt: »Sehe ich Sie morgen wieder?« Jedesmal schwor sie sich zu warten, bis er als erster jenen kleinen Satz äußerte, und immer war sie es, die ihn im letzten Moment furchtsam und schüchtern mit leiser Stimme murmelte. Nur ein oder zwei Mal hatte sie den Mut gehabt zu schweigen; am nächsten Tag hatte er sie zur gewohnten Stunde angerufen, doch bis dahin hatte die Ungewißheit sie halb wahnsinnig gemacht. Die Ungewißheit – das war die genaue Bezeichnung ihres Übels. Sie war fast sicher, daß er sie nicht betrog. Warum? Er hatte weder Zeit noch Gelegenheit dazu, und zweifellos gab es dort, wo er arbeitete, auch kaum eine Frau, die ihn in Versuchung führen konnte. ›Aber so etwas ist nichts, es wäre verzeihlich‹, dachte sie. Was sie brauchte, wie man Luft zum Atmen braucht, war die Sicherheit, geliebt zu werden. Sie wußte es nicht. Sie wußte nichts. Obwohl er immer matt und müde war und sich mit seiner Arbeit plagte, war er doch voller Zärtlichkeit und ihren körperlichen Reizen gegenüber stets empfänglich. Und doch hatte sie den Eindruck, daß nur sie mit ganzer Kraft an ihn, an ihre Liebe glaubte. Sie klammerte sich daran; sie wußte, wenn sie ihn verließ, würde er nichts tun, um sie zurückzuhalten – aus Trägheit, aus Kleinmut –, daher empfand sie oft eine große innere Erschöpfung, als hielte sie in ihren zitternden Händen eine kostbare Last, die eigentlich zu schwer für sie war. Und doch … Er war nicht bösartig, er war edelmütig und empfindsam – ohne jedoch wirklich zu begreifen, wie es um sie stand, ohne ihren Schmerz zu spüren. Auf ihre Frage »Sehe ich Sie morgen?« gab er stets die Antwort: »Ich werde Sie anrufen, Liebste.« Für ihn war es ganz einfach: Sie hatte ihm immer wieder gesagt, daß sie
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