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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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stürzten und über die Wangen rannen bis zu den Mundwinkeln, wo sie einen bitteren Geschmack hinterließen; sie zitterte bei der Vorstellung, daß sie in ein paar Minuten ans Licht treten mußte, mit ihren geröteten Augen und der perlmuttfarbenen Spur der Tränen auf ihren gepuderten Wangen. Und dann konnte sie nicht mehr aufhören; unaufhörlich flossen die Tränen und verschwanden zwischen den Diamanten im Ausschnitt ihres Seidenkleids.

18
    N ein, so kann ich mich nicht sehen lassen …«, sagte Denise an diesem Morgen.
    Sie lag noch im Bett, es war noch nicht neun Uhr. Sie hatte ihren Spiegel in der Hand und musterte sich lange mit jenem ängstlichen Blick, wie er alternden oder unglücklichen Frauen zu eigen ist. Nein, es war wirklich unmöglich: Nachdenklich strich sie mit dem Finger über eine hinterhältige kleine Vertiefung am linken Mundwinkel, noch keine Falte, aber ebensowenig ein Grübchen … eine unschlüssige Spur, beunruhigend wie eine diskrete Warnung …
    Wieder einmal hatte sie eine schlechte Nacht gehabt, in der sie die Schwerkraft fast körperlich gespürt hatte – dort, in der Brust –, und dann diese bösen, beunruhigenden Träume, in denen ihr Geliebter ihr entrissen wurde und sie vergeblich um ihn weinte. Sie seufzte. Wie weit entfernt sie nun waren, die strahlenden Vormittage von Hendaye am Anfang ihrer Liebe! Mit einem warmen Gefühl erinnerte sie sich sogar an die ruhigen Tage von damals, an die Abwesenheit von Kummer, die als Glück durchgehen konnte und wie die Verlängerung des Friedens ihrer Kindheit gewesen war. Heute hatte sie sich – freiwillig oder nicht – ihrem Mann, ihrer Tochter, ihren Freunden entfremdet … Mit Entsetzen wurde sie gewahr, daß sie eigentlich niemanden mehr auf der Welt – auf der ganzen Welt! – hatte außer Yves. Vielleicht klammerte sie sich deshalb so verzweifelt an ihn. Die Liebe, die der Angst vor Einsamkeit entstammt, ist traurig und unerbittlich wie der Tod. Ihr Verlangen nach Yves, nach seiner Gegenwart, seinen Worten, war zu einer trübseligen Manie geworden. Wenn sie nicht mit ihm zusammen war, quälte sie ihren Geist mit den Gedanken daran, was er wohl gerade tat, wo er sich aufhielt, mit wem er zusammen war. Wenn sie in seinen Armen lag, war die Angst vor dem nächsten Morgen so stark, daß sie nach und nach ihre Freude vergiftete. Wenn er sie liebkoste, blieb in ihrem Innersten immer das Bewußtsein der Zeit lebendig, die verstrich; vielleicht war dies die letzte Stunde, die sie mit ihm verbrachte? – Und sie ging so schnell, so schnell vorbei … Zuweilen geschah es, daß sie sich, wenn es sieben Uhr schlug, auf eine Weise an ihn klammerte, als wäre sie am Ertrinken, und sie war so bleich und zitterte dermaßen, daß er erschrak. Und wenn sie versuchte, es ihm zu erklären, streichelte er ihr die Stirn wie einem kranken Kind und sagte seufzend: »Armes Mädchen …« Doch er war nicht fähig, dieses weibliche Bedürfnis nach Sicherheit zu begreifen, dieses frenetische Verlangen nach seiner Anwesenheit und diese tiefe Angst davor, ihn zu verlieren, als könnte ohne ihn nichts mehr auf der Welt existieren. Doch selbst jene Minuten herzhaften Leidens waren selten. Im wesentlichen beschränkte sich ihre Beziehung, wie die von drei Vierteln aller illegitimen Paare in Paris, auf kurze Begegnungen zwischen sechs und sieben Uhr abends, wenn Yves aus dem Büro kam, auf unbedeutende Wortwechsel und einige hastige Liebkosungen … Der Samstagnachmittag bestand aus Liebesgesten, Schweigen, der abscheulichen und alles beanspruchenden Maske des Mannes, der seine Geliebte nimmt, wie man ein Glas Wein trinkt … Es war wenig, so wenig … Monotonie, Überdruß, Sorgen, Traurigkeit, durchsetzt von scharfem Schmerz, und dann wieder Überdruß, Sorgen … wenig, so wenig Freude … In tiefer Niedergeschlagenheit senkte sie den Kopf … Im letzten Sommer hatte Francette sich am Strand manchmal damit vergnügt, ihre Hände ins Meer zu tauchen, um ein wenig Schaum herauszuholen; sie bemühte sich mit aller Kraft, ihre Handflächen aneinanderzuhalten, und schrie vor Vergnügen; dann lief sie, so schnell ihre kleinen Beine es erlaubten, zu Denise; doch wenn sie die Hände voneinander löste, war nur noch ein wenig Wasser darin … Da begann sie zu weinen, das arme Kind … Und schließlich lief sie von neuem los … Das war die Liebe.
    Es war ein Junimorgen, von hellem Sonnenschein bestäubt. Um den blauen Himmel, das frische Laub der Bäume, das Licht

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