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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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dieses schönen Tages nicht sehen zu müssen, das sie kränkte in ihrem Leid, drückte sie die Stirn in das dunkle, heiße Kopfkissen. Doch ein leises Klopfen an ihrer Tür ließ sie auffahren.
    »Wer ist da?« rief sie.
    Die ruhige Stimme ihrer Mutter antwortete:
    »Ich bin’s, mein liebes Kind.«
    Denise versuchte in aller Eile, ihre Miene wieder alltäglich aussehen zu lassen, und lief zur Tür. Auf der Schwelle stand Madame Franchevielle, perfekt geschminkt, parfümiert und ausgeschlafen.
    »Du bist noch im Bett, Faulpelz! Ich wollte dich fragen, ob du mit mir zu Mittag ißt …«, sagte sie lächelnd.
    Denise, die nicht darauf erpicht war, sich dem durchdringenden Blick ihrer Mutter auszusetzen, stammelte:
    »Das ist eine wunderbare Idee, aber … Ich war gerade dabei, mich anzuziehen, ich habe schon eine Verabredung und … entschuldigen Sie, Maman …«
    Sie stand ihrer Mutter im Pyjama und barfuß gegenüber und strich mechanisch immer wieder eine schwarze Haarsträhne zurück, die ihr in die Stirn fiel. Sie war sehr blaß und zitterte ein wenig.
    Madame Franchevielle sah ihre Tochter scharf an und fragte in lebhaftem Ton:
    »Du bist doch nicht krank?«
    »Aber nein … ganz und gar nicht …«
    Ihre leise Stimme klang entsetzlich müde.
    Madame Franchevielle umfaßte ihr Gesicht mit beiden Händen.
    »Denise, was ist los?«
    Denise schüttelte den Kopf und preßte dabei die Lippen aufeinander, um nicht in Tränen auszubrechen. Madame Franchevielle streichelte ihr sanft über den Kopf.
    »Mein liebes Kind, du leidest doch?«
    Keine Antwort. Da sagte sie mit kalkulierter Schroffheit, den Blick fest auf ihre Tochter gerichtet:
    »Yves betrügt dich?«
    Doch Denise widersprach ihr nicht einmal mehr. Ein kleines trauriges Lächeln ließ ihre Lippen beben.
    »Sie glauben, ich bin schockiert, Maman? Ich weiß, daß Sie klug sind, vielleicht zu klug … Und außerdem mache ich mir kaum noch die Mühe, es geheimzuhalten, fürchte ich …«
    »Er betrügt dich also nicht?« wiederholte die Mutter beharrlich.
    »Nein.«
    »Liebt er dich?«
    »Ach, das …«
    Ihre Stimme wurde rauh. Sie hob bittend die Hand.
    »Maman, lassen Sie mich, lassen Sie mich, Sie können mir ja doch nicht helfen …«
    Sie stand jetzt am Fenster, mit dem Rücken zu ihrer Mutter, und legte ihre heißen Lippen an das Glas. Doch zwei liebevolle Arme umschlangen sie.
    »Denise, hast du denn kein Vertrauen mehr zu deiner Mutter?«
    Mit diesem kleinen Satz streichelte sie ihr zärtlich über den Kopf, wie sie es vielleicht auch bei einem jungen widerspenstigen Hund getan hätte. So war Madame Franchevielle früher, als Denise klein gewesen war, und selbst später noch mit all den Launen und Sorgen ihrer Tochter fertig geworden. Und auch dieses Mal gab Denise nach und erzählte ihr alles … Ihre Sorgen, die Höllenqualen, die sie in ihrer tiefen Ungewißheit auszustehen hatte, und vor allem der Kampf mit jenen scheinbar grundlosen Rückzügen, jenen unerklärlichen Schatten, die den Himmel ihrer Liebe verdüsterten wie leichte Wölkchen, die im Sommer über dem Meer aufsteigen, über den ganzen Horizont ziehen und am Ende die Sonne verdecken …
    »Du glaubst, daß er dich nicht liebt?« fragte Madame Franchevielle vorsichtig und indem sie die Schärfe in ihrer Stimme zu mildern suchte.
    »Ich weiß nicht … ich habe Angst …«
    »Aber du – du bist sicher, ihn zu lieben?«
    Denise rief empört aus:
    »Was sagen Sie da, Maman? Ich gebe ihm alles … mein ganzes Leben … all meine Gedanken … und noch mehr … Wissen Sie, wenn ich aufwache, bevor ich mir der Dinge um mich herum überhaupt bewußt werde, spüre ich es wie einen Stich in meinem Innern … wie Francette, als ich mit ihr schwanger war … und es ist wie damals, so schmerzhaft und so wunderbar … Es ist, als würde ich meine Liebe in mir tragen wie ein Kind … Sie können sich das nicht vorstellen, Maman …«
    »Ich weiß, meine Kleine, ich weiß …«
    »Wenn ich ihn nicht sehe, lebe ich nicht … nein, das kann man nicht leben nennen … ich überstehe irgendwie die Zeit, die nutzlosen Stunden … Sie können sich das nicht vorstellen …«
    »Doch, meine arme kleine Denise, doch, das kann ich …«
    Jetzt senkte Denise die Stimme, um zu fragen:
    »Sie können das? Haben Sie jemals … geliebt, Maman? Dann erklären Sie es mir … Warum bin ich so unglücklich? Ich habe einen gutaussehenden, jungen, treuen Liebhaber, wie aus einem Traum … Und doch leide ich … Sehen Sie mich

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