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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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Baum.
    Was sie davon abhielt, war die winzige Hoffnung, dass der Spuk nun zu Ende sein musste: denn wenn ihre ganze Familie beim nächsten Mal für acht Wochen oder drei Monate oder ein Jahr spurlos verschwand, dann gab es einfach keine Erklärungen mehr, dann würde ihnen niemand mehr irgendeine Geschichte abkaufen, dann würde die ganze S ache auffliegen, dann würde - ja, was würde dann geschehen?
    Rike stellte das Auto vor dem Haus ab, und schon fan den zwei Finger den Weg in ihren Mund. In der Küche hängte sie die Uhr an die Wand: sie musste schließlich wissen, wie viel Zeit ihr blieb, bis Wolter kam. Kurz darauf klingelte das Telefon. Rike nahm ab. „Ja?“
    „Hier ist Witt von der Firma Gehlen. Wir könnten morgen das Garagentor bei Ihnen ei nbauen. Passt Ihnen das?“
    „Ja, kommen Sie vorbei. Ich bin den ganze n Vormittag zu Hause“, erklärte Rike und machte mit Witt eine Zeit aus.
    Nachdem sie aufgelegt hatte, zog sie sich eine enge, rote Bluse an und öffnete im Wohnzi mmer beide Flügel der Terrassentür. Die Sonne schien ins Zimmer. Es war fast sommerlich warm draußen.
    Rike fing an, im Erdgeschoss herumzuwandern, fingerlutschend und kopfschüttelnd. Das Kopfschütteln fühlte sich überr aschend gut an, es drückte etwas aus, das sie schon gar nicht mehr in Worte kleiden mochte: ihre Fassungslosigkeit einerseits, ihre innere Verweigerung andererseits.
    Doch all das fiel schlagartig von ihr ab, als es an der Haustür klingelte. Sie öffnete die Tür, und ihr Herz klopfte schneller. Ihr Blutdruck stieg. Wolter hatte sich weiter verjüngt: seine Haare waren hellblond ohne jede graue Strähne. Er trug eine modische Jeansjacke mit aufgekrempelten Ärmeln. Er sah aus wie Mitte Vierzig und kein Jahr älter.
    Allerdings hatte er einen besorgten Ausdruck in seinen betörenden, bernsteinbra unen Augen. „Rike, wie geht es Ihnen?“, fragte er und trat in den Flur. In diesem Moment wünschte sich Rike nichts mehr als eine Berührung von ihm. Zwei Sekunden später lagen sie sich in den Armen. Und wenn er sie geküsst hätte, sie hätte sich nicht gewehrt.
    Aber er ließ sie bereits wieder los und meinte: „Ich brauche jetzt einen starken Ka ffee, und dann müssen wir uns unterhalten.“
    Als sie sich am Küchentisch gegenüber saßen, jeder einen Becher mit dampfendem Kaffee vor sich, nahm Wolter die neue Brille ab, wi schte sich mit einer Hand durchs Gesicht und blickte Rike fest in die Augen. „Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, Rike, aber jedes Mal, wenn ich Ihnen begegne, sehen Sie schlechter aus. Warum sagen Sie mir nicht, was wirklich los ist?“
    Sein Blick entfachte Unruhe in i hrem ganzen Körper. Sie sah auf den Messingkerzenhalter, der auf dem Tisch stand, und schüttelte ein paar Mal den Kopf. „Wir waren drei Wochen in einer Klinik eingesperrt und -“
    „Rike!“ , unterbrach sie der Doktor mit mildem Vorwurf in der Stimme. „Erzählen Sie keine Märchen. Jedes Mal, wenn ich in Ihr Haus komme, spüre ich, dass hier was nicht in Ordnung ist! Bitte, Rike, sagen Sie mir, was das Haus mit Ihrem Verschwinden zu tun hat.“
    Rike sah ihn nicht an. Wieder schüttelte sie den Kopf. Er sollte sie nicht so unter Druck se tzen, sonst ... sonst verspielte er sich am Ende ihre Sympathie! Sie gab ihrer Stimme einen kühlen Unterton. „Ich finde es beleidigend von Ihnen, dass Sie mich als Lügnerin hinstellen! Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
    „Können Sie nicht? Wollen Sie nicht? Oder dürfen Sie nicht?“
    Rike sah ihn an. Verflixt, wusste er doch etwas? Warum redete er dann um den heißen Brei herum? Oder spekulierte er wieder nur und wartete darauf, dass sie sich verplapperte? In seinen Augen war keine Hinterlist, da war wieder diese Zärtlichkeit und Wärme, die sie vollends aus dem Konzept brachten.
    „Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen!“ , behauptete sie trotzig und schaute aus dem Fenster zum Vorgarten hinaus, wo ein Stück Kotflügel von Wolters grässlichfarbenem Wagen zu sehen war.
    „Ich erklär’s Ihnen“ , hörte sie den Doktor sagen. „Jetzt erzähle ich nämlich mal eine unglaubliche Geschichte! Ich hatte schon beim ersten Mal, als ich im Haus nach Ihnen gesucht hab, das Gefühl, dass es hier in der Küche an bestimmten Stellen auffallend wärmer war als an anderen. Beim nächsten Mal hab ich bewusst auf die Stellen geachtet. Die Wärme war immer noch da, am gleichen Ort, als gäbe es dort eine Ansammlung von ... von Energie. Es war eine Stelle gleich da

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