Das mittlere Zimmer
Rike trotzig, aber sie ahnte schon, dass er noch etwas in petto hatte.
Seine Stimme klang jetzt etwas wärmer. „Ich war danach noch öfter mit Ihrer Mutter im Haus ... die Frau war ziemlich am Ende! Wir haben den Anrufbeantworter abgehört und jede Me nge Computerdateien durchstöbert, aber es gab einfach keine Antwort darauf, wieso eine ganze Familie wie vom Erdboden verschluckt war. Und es gab auch keinen einzigen Hinweis darauf, dass das Haus zu irgendeinem Zeitpunkt desinfiziert wurde. Rike, es steckt doch was ganz anderes hinter der Geschichte! Wollen Sie’s mir nicht sagen?“
Rike schluckte zweimal schwer. „Ich ... ich kann nicht.“
„Es geht Ihnen nicht gut, nicht wahr?“, fragte der Doktor, und seine Stimme war voller Mitgefühl.
„Nicht besonders “, nuschelte Rike.
„Was halten Sie davon, wenn ich heute Nachmittag mal auf einen Kaffee bei Ihnen vorbe ischaue?“
„Das wär schön.“
„Gut, ich denke, ich kann zwischen halb fünf und fünf Uhr Feierabend machen. Bis nachher dann. Gehen Sie ein bisschen spazieren, das wird Ihnen gut tun.“
„Ja, tue ich vielleicht. Bis nachher.“
Hannah, die längst herausgefunden hatte, wie man den Fernseher einschaltete, saß auf der Couch und spielte an der Fernbedienung herum. Rike wählte mit leichtem Magenschmerz die Telefonnummer ihrer Mutter.
„Ja?“
„Ich bin’s. Rike. Wir sind wieder da.“
„Oh Gott!“ , schrie ihre Mutter so schrill in den Hörer, dass Rike befürchtete, sie werde am anderen Ende der Leitung tot umfallen.
„Mama? Geht’s dir gut?“ , rief sie nun ihrerseits besorgt, aber ihre Mutter schien sich vom ersten Schrecken erholt zu haben, denn sie schoss eine ganze Salve von Fragen durchs Telefon.
Als Antwort darauf erzählte Rike ihre Geschichte. Ihre Mutter schien sie erst einmal zu gla uben, denn sie erklärte sofort, diese ,kriminelle Aktion‘ werde ein Nachspiel haben, so was könne man sich nicht gefallen lassen!
Rike hörte ihr, an zwei Fingern lutschend, zu und meinte, als ihre Mutter eine kurze Pause zum Luftholen machte: „Mama, nun reg dich doch nicht so auf. Kann ich mit Hannah mal eben zu dir rüberkommen?“
Ihre Mutter bestand sogar darauf. Rike zog sich eine Jacke über, derer sie sich, kaum dass sie im Auto saß, wieder entledigte. Es war warm, denn es war Juni, das hatte sie vergessen.
Während der Fahrt in die Stadt redete Rike ihrer Tochter ein, dass sie gleich mit Oma ein lu stiges Spiel spielen solle: wenn Oma fragte, wo sie gewesen sei, solle sie antworten, sie sei in einem großen, weißen Haus mit vielen langen Fluren und vielen vielen Zimmern gewesen und hätte nie nach draußen gedurft. Sie traktierte Hannah so lange damit, bis das Kind immer ärgerlicher wurde. Gut, so sollte es sein.
Rike erschrak, als ihre Mutter die Wohnungstür öffnete. Sie hatte noch weiter abg enommen und Ringe unter den Augen, als befände sie sich im Endstadium einer tödlichen Krankheit. Sie fielen sich in die Arme, und Rike kamen die Tränen.
„Ach Mama, es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest! Ich bin genauso fix und fertig wie du! Erst die Angst, dass wir alle unheilbar krank sind und sterben müssen, und dann drei Wochen eingesperrt sein, ohne jeden Kontakt zur Außenwelt! Das war so furchtbar! Und ich wusste doch, was ihr euch für Sorgen macht!“
Sie ließen sich los, und auch ihre Mutter tupfte sich heimlich etwas Feuchtes aus dem Augenwinkel. „Weißt du was? Ich koche euch beiden jetzt was Leckeres zu Mittag, und hinterher machen wir einen Stadtbummel. Und Hannah kann heute Nacht bei uns bleiben.“
Hannah nickte begeistert, und auch Rike war dankbar. Vielleicht konnte sie die Gel egenheit für eine Aussprache mit Achim nutzen. Während der nächsten Stunden ließ sich ihre Mutter von Rike jede Einzelheit aus der ,Klinik‘ berichten. Irgendwann kam ihre Mutter auf den ,netten Doktor Wolter‘ zu sprechen, der ihr so tatkräftig zur Seite gestanden hatte. Eigentlich hätte sie ihn älter in Erinnerung gehabt. Was eine neue Brille und ein paar flotte Kleidungsstücke doch ausmachten.
Nach dem Essen bummelten sie durch die Stadt, genehmigten sich ein Eis und kau ften ein rosa Kleidchen für Hannah.
Gegen drei Uhr fuhr Rike allein nach Hause zurück. Zunächst fühlte sie sich wie von einer Last befreit, aber als i hr Haus in Sichtweite kam, das schöne, alte, verwunschene, furchtbare Haus, hätte sie beinah das Gaspedal durchgetreten und wäre geflohen. Für immer. Gegen einen
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