Das mittlere Zimmer
fühlte sich an, als flöße ihr dieser Kuss eine gewaltige Kraft ein, die Kraft, mit allem fertig zu werden, die Kraft, alle Probleme der Welt zu lösen!
Plötzlich hörte sie eilige Schritte im Flur, und dann schrie j emand: „Verdammte Scheiße! Das hab ich mir doch gedacht!“
Rike ließ Johann sofort los, Johann ließ Rike los, und beide starrten auf die Gestalt, die in der Küchentür aufgetaucht war und am ganzen Körper zitterte. Achim. Sein Gesicht war rot ang elaufen, er atmete schwer, und Rike war sicher, dass er jeden Moment vom Herzinfarkt niedergestreckt werden würde.
Aber Achim beweg te sich mit wütenden Blicken auf den Doktor zu, der automatisch zwei Schritte zurückwich, dann aber stehen blieb.
„Gehen Sie!“ , herrschte Achim ihn an. „Verlassen Sie sofort mein Haus!“
Johann maß Achim mit einem mitleidigen Blick, sagte jedoch kein Wort, sondern ging um den Tisch herum zur Tür. Als Achim die Haustür ins Schloss fallen hörte, sank er auf einen Stuhl, nahm die Brille ab und fing an zu weinen. Rike stand hilflos daneben. Sie wagte nicht, ihn anzufassen. Eigentlich wollte sie es auch nicht.
Jetzt legte Achim sogar die Arme auf den Tisch, verbarg seinen Kopf darin und schluchzte: „Warum tust du mir das an? Haben wir nicht schon genug Scheiße am Hals? Wollten wir nicht immer für einander da sein?“
Hatte Rike gerade noch so etwas wie Mitgefühl mit ihrem Ehemann empfunden, so wurde sie jetzt ärgerlich. „ Ich war immer da! Du warst in letzter Zeit nicht mehr für mich da! Erinnerst du dich?!“
Achim schien gar nicht zuzuhören. „Ich kann nicht mehr!“ , jammerte er und zog geräuschvoll die Nase hoch. „Ich will nicht mehr! Ich bin am Ende! Es geht nicht mehr!“
Rike holte noch eine Tasse aus dem Schrank, goss Kaffee hinein und stellte sie vor Achim auf den Tisch. „Jetzt trink mal was! Vielleicht können wir ja dann wie normale Menschen miteinander reden!“
Achim trank einen Schluck. Sein Gesicht hatte sich noch mehr gerötet, seine blassblauen A ugen sahen verquollen und klein aus. In diesen Augen wurde jetzt ein Ausdruck wach, der nichts Gutes verhieß.
„Wo ist Hannah?“ , wollte er wissen und schaute sich suchend um.
„Ich hab sie zu meinen Eltern gebracht. Sie wollte unbedingt dort übernachten.“
„Ach so ist das!“ Achims rechtes Auge begann zu zucken, und er sah wie unter Zwang auf die Küchenuhr. „Du hast den Weg freigeräumt für dich und den Viehdoktor! Ihr hättet genug Zeit gehabt, wenn ich nicht so gut aufgepasst hätte!“ Achim stand auf. „Ich hole Hannah jetzt ab!“
„Nein, das wirst du nicht tun!“ Rike wurde energisch. „Sie hat sich darauf gefreut, bei Oma und Opa zu schlafen, und außerdem ist sie ... du weißt schon, sie ist ... sie ist sicherer dort!“
Sie sahen sich in die Augen, und Rike wusste, dass sie ein gutes Argument gebracht hatte. Obwohl sie in erster Linie gar nicht an das Zeitphänomen gedacht, sondern ein ganz anderes Bild im Kopf gehabt hatte: wie ein in Tränen, Selbstmitleid, Verzweiflung und Hass aufgelö ster Achim mit einer ahnungslosen Hannah neben sich das tun könnte, was sie selbst bisher nicht geschafft hatte: mit dem Auto gegen einen Baum fahren.
Plötzlich wandte er sich ab und stieg mit seiner Kaffeetasse in der Hand nach oben.
„Ich hab Hannah dort übernachten lassen, damit wir heute Abend mal ungestört miteinander reden können“, rief Rike hinter ihm her. „Hörst du? Überleg dir das.“
Als sie allein war, holte sie sich frischen Kaffee, setzte sich an den Tisch und steckte ihre beiden Lieblingsfinger in den Mund.
Sie war erheblich durcheinander. Warum hatte sie den Doktor geküsst? Nur, weil sie im M oment nicht genug Zuwendung bekam? Nur, weil sie mit dem Mann durch das Phänomen irgendwie verbunden war? Oder auch, weil sie ihn mochte?
Aber war es nicht schrecklich charakterlos und unfair, Achim gerade jetzt zu hintergehen? Ja.
Rike lutschte an ihren Fingern und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie bra uchte jemanden, der ihr aus der Situation heraushalf, jemanden, der noch klar denken und fühlen konnte. Und das war nicht Achim.
Ihr kamen die Tränen. Wie sollte das alles nur weitergehen? Da ihr dazu nichts anderes ei nfiel als ein Name (Johann!), wischte sie sich die Augen ab, siedelte mit ihrer frisch gefüllten Kaffeetasse ins Wohnzimmer über, schloss die Terrassentüren, hängte die Pendeluhr wieder auf und schaltete den Fernseher ein, um nicht länger nachdenken zu müssen.
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