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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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sich das Tor öffnen lassen.
    Sie drehte sich so, dass sie ihre Füße gegen das Tor stemmen konnte, und drückte mit einer allerletzten Kraftanstrengung dagegen. Ihr wurde entsetzlich schwindlig, sie sah fast nichts mehr. Das Tor schwang einen halben Meter nach oben, kam aber sofort wieder zurück. Ihre Beine konnten keinen Widerstand mehr leisten. Das Tor schlug mit dumpfem Poltern zu, und Rike wurde schwarz vor Augen.
     
    Das erste Mal kam sie vor Schmerz zu sich. Es fühlte sich an, als risse ihr jemand die Haut von den Lippen. Sie sah den blauen Himmel über sich und dann einen dunklen, menschlichen Umriss vor dem hellen Garagentor. Der Mensch beugte sich über sie und zog ihr etwas aus dem Mund. Und schon fiel sie erneut in einen Strudel aus Schwindel und Schwärze.
     
    Als sie das zweite Mal zu sich kam, wurde sie gerade auf einer Liege in einen Kra nkenwagen geschoben. Ein Arzt war mit ihr beschäftigt und drückte ihr eine Maske auf Mund und Nase. Durch die hinteren Türen sah sie zwei weitere feuerrote Rettungswagen vor der offenen Garage stehen. Und dann tauchte sie wieder hinab in die Dunkelheit ... und tauchte danach noch mehrmals bis kurz unter die Oberfläche auf ... nahm weißgekleidete Menschen wahr ... piepsende und brummende Apparate ... grelles Licht, Gerüche nach Desinfektionsmitteln, verwaschene Stimmen, die Dinge sagten, die sie nicht verstand ... bis sie irgendwann die Augen aufschlug und auf ein Blumenbild an der gegenüber liegenden Wand blickte, neben dem ein großer Fernseher an der Wand hing. Das kam ihr komisch vor.
    Sie drehte den Kopf nach rechts und sah auf eine breite Fensterfront mit gelb-orange gestrei ften Vorhängen. Sie wandte sich zur anderen Seite, wo gerade ein Arzt und eine Schwester zur Tür hereinkamen. War sie in einem Krankenhaus? Rike wunderte sich - bis die Erinnerung mit der Wucht einer Kanonenkugel in ihr Bewusstsein schoss.
    Sie steht an der Spüle. Lautes Poltern. Angst. Sie rennt in die Garage. Achim schlägt sie ni eder. Die gefesselte Hannah auf dem Rücksitz. Achim startet den Motor. Sie kann aus dem Auto fliehen, robbt bis ans Tor, will es aufstoßen, wird ohnmächtig. Schwindel, Übelkeit, Dunkelheit -
    „Atmen Sie, Frau Eberhardt!“ , rief ihr jemand zu und rüttelte an ihrer Schulter. „Tief einatmen, und wieder ausatmen! Ja, so ist es gut!“
    Die Konturen der Gesichter vor ihr wurden schärfer, aber Rike spürte jetzt ein furch tbares Kratzen im Hals, und sie fing an zu husten, und sie hustete und hustete, dass sie dachte, sie würde jeden Moment ihre Lunge auf den Boden spucken. Die Schwester hielt ihr schließlich etwas unter die Nase, das sie unweigerlich einatmete und das den Husten beruhigte.
    Das Husten hatte sie so angestrengt, dass sie erschöpft und keuchend, mit Tränen in den A ugen, auf dem Rücken lag, mit einem Puls, als sei sie 20 Kilometer gelaufen. Der Arzt, ein älterer, kleiner Mann, lächelte mit einem definitiv künstlichen Gebiss ein wenig mitleidig auf sie herab und meinte: „Ich bin Dr. Berger. Sie  haben sicher gerade selbst gemerkt, dass Ihr Zustand noch kritisch ist. Sämtliche Organe Ihres Körpers sind durch die Kohlenmonoxidvergiftung schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Wir müssen in den nächsten Tagen besonders Lunge, Herz und Gehirn überwachen.“
    Der Doktor zeigte wieder seine exakt geformten Zähnchen, aber Rike war ziemlich egal, was er sagte, denn plötzlich hatte sie nur noch einen Gedanken im Kopf. „Was ist mit meiner Tochter? Wie geht es ihr? Wo ist sie?!“
    Der Arzt schaltete das Lächeln ab und schaute auf die Stelle der weißen Bettdecke, unter der sich Rikes Füße abzeichneten. „Wir ... äh m ... wir wissen noch nichts Genaues, aber wir, tja also, wir kümmern uns um alles. Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen, sondern ruhen Sie sich aus und werden Sie gesund.“
    Rike traute ihren Ohren nicht. Wie konnte sie sich erholen, wenn sie nicht wusste, wie es Hannah ging?! Er durfte sie nicht im Unklaren über Hannahs Zustand lassen!
    Dr. Berger sah sie wieder an, mit einem hilflosen, mit einem komplett ratlosen Ausdruck im Gesicht. Und auf einmal dämmerte es ihr: die Ärzte konnten ihr nicht sagen, wie es Hannah ging, weil sie nicht wussten, wo sie war! Weil genau in dem Moment, in dem Wer-auch-immer Rike aus der Garage gerettet hatte, das Zeitphänomen zugeschlagen hatte! Hatte sie nicht, kurz bevor sie ohnmächtig wurde, ein verdächtiges, kreischendes Rauschen gehört? Hannah, Achim und

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