Das mittlere Zimmer
die Eltern waren von einer Sekunde zur nächsten verschwunden und niemand verstand, was passiert war!
Rike war nicht klar, warum, aber sie fühlte, dass alles richtig so war. Sie entspannte sich und schenkte dem Arzt ein erschöpftes L ächeln. „Sie haben Recht, ich muss mich erholen. Sie werden schon alles Menschenmögliche für meine kleine Hannah tun.“
Der Doktor warf der Schwester, die einen sehr langen Hals und kurze, rotgefärbte Haare hatte, einen auffordernden Blick zu, woraufhin sie sich an Rikes Infusionsflasche zu schaffen mac hte.
Rike fühlte sich plötzlich noch schläfriger. „Was ist heute eigentlich für ein Tag?“ , fragte sie mit schwerfälliger Zunge.
Bergers Stimme klang jetzt wieder munter. „Mittwoch.“
„Wer hat mich gerettet?“, nuschelte Rike.
„Ihr Nachbar, der Tierarzt. Er hat Sie jeden Tag auf der Intensivstation besucht.“
Johann. Natürlich. Rike sank in den Schlaf, sank in einen Traum, in dem sie Johann in einem finsteren, blau schimmernden Keller einen Kuss gab, mit einem Gefühl von Gefahr und Bedrohung im Hinterkopf. Sie war froh, als man sie weckte. Man servierte ihr ein spätes Mittagessen, obwohl sie noch gar keinen richtigen Appetit hatte, zumal der Reis reichlich hart und der Fisch, der in einer weißlichen Soße schwamm, ziemlich fade schmeckten.
Als sie gerade die Gabel beiseite gelegt hatte, öffnete sich die Tür, und herein kam Johann, der in strahlendes Lächeln ausbrach, als er bemerkte, dass sie wach war. Er trug keine Jacke, sondern nur ein am Hals offen stehendes, an den Ärmeln aufgekrempeltes, kariertes Hemd. Es mus ste warm sein draußen.
Die Tasche, die er dabei hatte, stellte er neben dem Bett ab, räumte das Tablett mit den Resten des Mittagessens auf den Tisch unter dem Fernseher, klappte den Au szug des Nachttischs zusammen, beugte sich über Rike, die halb aufgerichtet im Bett saß, und küsste sie vorsichtig auf den Mund.
Rike schlang die Arme um seinen Hals, fühlte sich wach wie lange nicht mehr, freute sich und küsste Johann ungestüm zurück. Fünf Sekunden sp äter bekam sie einen Hustenanfall, dass sie glaubte, sie müsse unweigerlich ersticken. Johann klopfte auf ihrem Rücken herum, klingelte nach der Schwester und redete besorgt auf Rike ein. Der Husten legte sich schneller als erwartet, sogar noch bevor die Schwester kam.
„Das klingt aber gar nicht gut“ , bemerkte Johann, ließ von Rike ab und hob die Tasche aufs Bett. „Blumen sind nicht erlaubt, deshalb habe ich dir eine Schachtel Pralinen und ein paar Zeitschriften mitgebracht. Aber vielleicht hätte ich besser Hustensaft besorgen sollen.“
Das hörte die Schwester mit den roten Haaren, die gerade ins Zimmer trat. „Unsinn, Frau Eberhardt kriegt hier alles, was sie braucht! Sie darf sich nur in den nächsten Tagen nicht a nstrengen und nicht aufregen! Was haben Sie mit ihr gemacht?“ Sie zwinkerte Johann zu, aber er fand die Situation offenbar nicht witzig.
„Gar nichts hab ich gemacht“ , gab er ungewöhnlich gereizt zurück. „Was ist übrigens in der Infusion drin, die Sie da gelegt haben? Haben Sie überprüft, ob Frau Eberhardt auf irgendwelche Substanzen allergisch reagiert?“
Die Schwester sah ihn überrascht an und bekam von ihm gleich noch ein paar med izinische Fachausdrücke um die Ohren gehauen, die Rike noch nie gehört hatte.
„Das sollten Sie alles mit Dr. Berger besprechen“ , tat die Schwester beleidigt kund und verließ das Zimmer.
Johann holte sich einen Stuhl, setzte sich zu Rike ans Bett und griff nach ihrer Hand. „En tschuldige meinen Ton, aber ich habe den Eindruck, du wirst hier nicht optimal versorgt! So eine Kohlenmonoxidvergiftung kann schwere Spätfolgen nach sich ziehen. Ich werde auf jeden Fall mit dem Doktor reden!“
Ach, tat das gut! Es tat gut, jemanden um sich zu haben, der sich um alles kümmerte und der wusste, wie man mit solchen Situationen und Menschen umging! Rike drüc kte seine Hand, und Johann begann zu berichten, was in den letzten Tagen alles passiert war. Über den Samstagmorgen allerdings verlor er kein Wort.
Und auch Rike kam keine Frage zu diesem Thema über die Lippen. Obwohl sie natürlich ge rne gewusst hätte, wieso er zum genau richtigen Zeitpunkt zur Stelle gewesen war, um sie zu retten; was er gedacht hatte, als er Hannah, ihre Eltern und Achim aus der Garage holen wollte und sah, dass sie verschwunden waren; was in ihm vorging, als er merkte, dass er nicht darüber reden durfte. Denn genauso
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