Das mittlere Zimmer
wissen. Sogar seine Nase über dem rotblonden Schnauzbart war lang und dünn.
„Mir geht’s schon viel besser“ , versicherte Rike und strahlte ihn an, als ginge es ihr tatsächlich blendend. Was wollte er? Sie testen? Sie gegebenenfalls in eine Anstalt einweisen?
„Frau Eberhardt, ich muss Ihnen jetzt etwas sagen, das wir Ihnen bisher aufgrund Ihres krit ischen Gesundheitszustandes verschwiegen haben“, begann er, und sein Blick glitt plötzlich ins Todtraurige, und sein Gesichtsausdruck kippte um in pures Mitgefühl.
Rikes Magen schien sich zusammenzuschnüren. Sie hielt die Luft an. Hatte sie einen Gehir ntumor? Musste ihr Bein amputiert werden?
Dr. Großschmidt seufzte einmal auf. „Ich bin sicher, Sie ahnen es längst ... Frau Eberhardt, der Notarzt, der Sie am Samstag sozusagen in letzter Sekunde ins Leben zurückgeholt hat, konnte für Ihre Familie leider nichts mehr tun. Ihr Ehemann, der diesen furchtbaren Selbs tmord inszeniert hat, Ihre Tochter und Ihre Eltern sind tot.“
Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Rike atmete aus und versuchte, ein undurchscha ubares Gesicht zu machen. Was war das jetzt? Warum sagte er so etwas? Sie drehte den Kopf von ihm weg und sah zum Fenster hinaus. Ihr Zimmer befand sich im vierten Stock, und der Blick aus dem Fenster ging über die halbe Stadt, über die sommerlich grüne Stadt, in der sich Menschen auf ein sonniges Wochenende freuten, auf Ausflüge, aufs Schwimmbad, auf Radtouren und Küsse auf der Parkbank. Alles Dinge, die Rike auch zu gern getan hätte.
Und auf einmal wurde ihr alles klar. Diese Leute brauchten eine glaubwürdige Vers ion für die Öffentlichkeit! Niemand durfte erfahren, was wirklich in der Garage geschehen war! Es war ihnen verboten worden, darüber zu reden! Also taten die Leute so, als seien die Verschwundenen nicht mehr am Leben!
Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als mitzuspielen. Sie musste so tun, als glaube sie Dr. Großschmidt. Wie aber reagierte man jetzt angemessen auf die Nachricht vom Tod der ga nzen Familie? Genau. Mit Husten. Mit einem geradezu hysterischen Hustenanfall.
Rike fing an zu hüsteln und steigerte sich dann vorsätzlich in immer wilderes Husten hinein. Sie brauchte nicht einmal an den Schrecken in ihrem Haus, an ihre gestohl ene Zeit, an das Zerbrechen ihrer Ehe und an Achims Absturz in den Wahnsinn zu denken - das Husten reichte aus, um ihr die Tränen in die Augen zu treiben. Sie hustete und weinte und keuchte und hämmerte mit den Fäusten auf die Matratze.
Dr. Großschmidt rief nicht die Schwester, sondern tätschelte auf Rikes Rücken he rum und wiederholte gleichförmig und beruhigend: „Ja, lassen Sie es raus, es ist schrecklich, schimpfen und schreien Sie ... ja, so ist es gut ... gleich fühlen Sie sich besser.“
Eine Viertelstunde später war sie mit ihren Kräften am Ende: sie konnte einfach nicht mehr husten.
Der Psychiater empfahl ihr, sich ein wenig auszuruhen. „Sie sind noch ziemlich schwach und anfällig, Frau Eberhardt. Meine Kollegen und ich haben uns lange beraten, und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir Ihnen die Teilnahme an der Beerdigung nicht empfehlen. Sie sind uns in jeder Hinsicht noch zu labil.“ Er sah sie mit sorgenvoll gerunzelter Stirn an.
Rike schnäuzte sich geräuschvoll die Nase und fand es überhaupt nicht verwunde rlich, dass man ihr abriet, zur Beerdigung zu gehen. Was würde man tun, wenn sie darauf bestand, sich vor der Beisetzung von ihren Lieben zu verabschieden? Woher sollten sie die Leichen nehmen?
Also würde sie einfach mitspielen. Das war (irgendwie ahnte sie es) auch in ihrem eigenen Int eresse. Sie nickte. „Sie haben Recht, ich könnte es nicht ertragen.“
Großschmidt beobachtete sie immer noch mit Sorge. „Ein Onkel von Ihnen hat angeboten, sich um alles zu kümmern, was die Beerdigung betrifft. Er wird Sie dieses Wochenende bes uchen.“ Er legte seine Hand kurz auf ihre, lächelte bitter und meinte: „Ich gehe jetzt, aber ich sehe später noch mal nach Ihnen, in Ordnung?“
Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als Johann auftauchte, auch er mit einem Ausdruck mi tfühlenden Schmerzes im Gesicht. Was dachte er? Dass sie die Nachricht vom Tod ihrer Nächsten und Liebsten ohne Misstrauen geschluckt und als Tatsache akzeptiert hatte? Und was glaubte er selbst? Er musste doch gesehen haben, dass die Menschen, die er aus der Garage hatte retten wollen, vor seinen Augen verschwunden waren. Er musste das Täuschungsmanöver mir der
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