Das mittlere Zimmer
musste es sein. Er durfte nicht darüber reden. Sie durfte auch nicht.
„Rike, du siehst nicht gut aus. Wie fühlst du dich?“ , fragte er plötzlich mit Besorgnis in den hellbraunen Bernsteinaugen.
„Schwach und müde“ , gab Rike zu.
Johann riet ihr, so viel wie möglich zu schl afen, während er mit den Ärzten reden und sich anschließend um seine eigenen Patienten kümmern wollte. „Ich bin morgen Nachmittag wieder hier. Ruhe dich aus und erhole dich. Du hast meine Telefon- und Handynummer, wenn du mich brauchst.“
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und war noch kaum zur Tür hinaus, als ihr auch schon die Augen zufielen.
Am nächsten Tag schaffte sie es schon, allein zur Toilette zu gehen, wenn auch das rechte Bein sich nach wie vor steif und taub anfühlte. Also wurde das Bein ein paar aufwändigen Untersuchungen unterzogen, die nicht viel Neues brachten.
Nachmittags tauchte Johann auf und erzählte ihr etwas von Reha-Maßnahmen, die ihr schon wieder auf die Beine helfen würden. Außerdem hatte er Kuchen mitg ebracht, und als Rike sich eben das letzte Stückchen in den Mund schob, fragte Johann, während er sich den hellblonden Vollbart kratzte: „Was hast du eigentlich vor, wenn du hier rauskommst?“
„Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht.“ Rike stutzte. In ihrem Gehirn herrsc hte auf einmal eine Leere wie im fernsten Winkel des Alls. Und genauso dunkel und unwirklich erschien ihr die nähere Zukunft.
Sie schwieg. Die Gesprächspause dehnte sich aus. Wurde länger, wurde unangenehm. Es schien fast, als hätten sie sich nichts mehr zu sagen. Nein, das stimmte nicht. Sie dur ften nur über das, was wesentlich war, nicht miteinander sprechen.
Plötzlich sah Johann auf seine Armbanduhr. „Ich muss noch ein paar Hausbesuche machen. Morgen um die gleiche Zeit bin ich wieder hier.“ Er ließ ein Lächeln sehen, in dem eine Spur Schwermut mitschwang, ein Lächeln, das Rike an den Johann Wolter erinnerte, den sie A nfang April kennen gelernt hatte: an das Lächeln des älteren, erfahrenen Mannes, der im Leben viel Schlimmes gesehen und durchgemacht hatte. Es erschreckte sie.
Aber Johann gab ihr ein liebevolles Küsschen und bemerkte, bevor er endgültig das Zimmer verließ: „Bitte mach dir ein paar Gedanken darüber, was du tun willst, wenn du hier rau skommst. Dann also, bis morgen.“
Rike legte sich zurück, deckte sich zu, schloss die Augen und begann über Johanns Frage nachzudenken. Zwei Minuten später war sie eingeschlafen. Anscheinend weckte man sie zum Abendessen nicht auf, denn sie wurde erst mitten in der Nacht wach, als eine der Schwestern wieder einmal nach ihr sah. Danach passierte das Un glaubliche - sie konnte nicht einschlafen. Und während sie sich von einer Seite auf die andere wälzte, die Decke bis ans Kinn zog und wieder wegschlug, grübelte sie über Johanns Frage nach. Was würde sie tun, wohin würde sie gehen, wenn sie entlassen wurde?
Auf keinen, auf gar keinen Fall durfte sie auch nur einen Fuß in ihr eigenes Haus setzen! Denn dort war die Zeit stehen geblieben, und sie würde, wenn sie es betrat, im Bruchteil einer Sekunde aus der Wirklichkeit gesaugt, so wie vor ein paar Wochen Achim, als er von der A rbeit kam! Nein, vom Haus musste sie sich fernhalten!
Aber sie könnte auf die Wohnung ihrer Eltern aufpassen, bis sie wieder da waren. Obwohl ihr Herz nichts anderes wollte als ... als bei Johann einzuzi ehen. Nach weiterem einstündigen Wälzen und Grübeln entschied sie sich dafür, ihrem Herzen zu folgen und vorläufig bei Johann zu wohnen, egal was die Leute reden mochten.
Rike fühlte sich geistig erschöpft, aber einschlafen konnte sie trotzdem nicht. Sie rief nach der Schwester und ließ sich ein Medikament geben.
Am Freitagmorgen brachte man sie nach unten zur Gymnastik. Nach dem Mittagessen kam ein langer, dünner Mann mit rotem Kraushaar ins Zimmer und setzte sich zu Rike ans Bett.
„Guten Tag, ich bin Dr. Großschmidt“ , stellte er sich vor und gab Rike die Hand. Er trug keinen weißen Kittel, sondern Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt, das für Rikes Geschmack viel zu wenig von seinen schrecklich mageren, sehnigen Armen bedeckte.
„Ich bin Psychiater und Neurologe hier an der Klinik“, fuhr er fort und lächelte sofort entschuldigend.
Um Himmelswillen, hatte sie doch schlimmere Schäden, als sie vermutet hatte? Sie setzte sich aufrecht hin und lächelte vorsichtshalber zurück.
„Wie geht es Ihnen?“, wollte Dr. Großschmidt
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