Das mittlere Zimmer
zurückgezogen. Er schien sich dort mit seiner Frau Isabella aber nicht niederlassen zu wollen, sondern wechselte von einem Nobelh otel ins andere. Zwischen den Zeilen glaubte Rike eine größer werdende Unzufriedenheit herauszulesen - das müßige Leben langweilte und deprimierte Distelrath zunehmend.
Den Sommer 1915 verbrachten die beiden in einem Städtchen in einem idyllischen Tal. E ines Tages, als Isabella mit einer Grippe im Hotelbett lag, machte Distelrath allein einen Spaziergang durch die Umgebung. Er kam an einem großen Hof mit Kühen, Schweinen und Pferden vorbei und fragte kurzerhand den Bauern, ob er in den Pferdeställen mitarbeiten dürfe.
Da er keinen Lohn verlangte, war der Bauer einverstanden und lud Distelrath auf ein Glas Wein ein. Als sie vor dem Wohnhaus in der Sonne saßen, Wein tranken und über die Haltung von Kühen und Pferden fachsimpelten, kam Hedwig, die älteste Tochter des Bauern heraus, setzte sich zu ihnen und hörte zunächst nur zu. Distelrath beschrieb sie als italienischen Typ. Dunkle Augen, schwarze Haare, füllig an den richtigen Stellen, temperamentvoll.
Rike lief es kalt den Rücken hinunter. Sie ahnte, was das zu bedeuten hatte. Sie blä tterte die Seiten immer schneller um.
Distelrath meinte unter der Unbildung der Bauerstochter große Klugheit erke nnen zu können und schien entschlossen, diese ans Tageslicht zu befördern. Im Anschluss an seine Stallarbeit unterrichtete er die sehr lernbereite, 22jährige Schönheit in allen möglichen Schulfächern. Ob es dabei mit Hedwig zu Intimitäten kam, wollte Rike gar nicht wissen. Sie blätterte und blätterte und bekam nicht einmal mit, ob Isabella über die eigenwillige Lehrtätigkeit ihres Ehegatten im Bilde war.
Im Januar 1916 meldete Distelrath sich und seine Frau zu einem Skikurs an, im März 1916 (so erfuhr Rike plötzlich) weilte Isabella nicht mehr unter den Lebenden. Was war in der Zw ischenzeit passiert?
Obwohl ihr Magen zu schmerzen begann, obwohl sie am liebsten nichts darüber g elesen hätte, blätterte Rike zurück und fand, was sie suchte.
23.2.1916
Fast täglich bekomme ich von Isa zu hören, dass ihr das Skifahren keine Freude b ereite! Das mag stimmen, aber in letzter Zeit bereitet ihr nichts mehr Freude! Das trägt nicht dazu bei, meinen eigenen Lebensüberdruss zu vermindern!
Wenn ich Hedwig und ihre unersättliche Wissbegier nicht hätte, wüsste ich nicht, woran ich mich erfreuen sollte!
25.2.1916
Gestern, nach dem Mittagessen überredete ich Isa ein letztes Mal, den Hang vor dem Hotel hinabzufahren.
Die Sonne sandte ihre bereits wärmenden Strahlen von einem leuchtend blauen Himmel he rab, ringsum erhoben sich die Berge schneebedeckt und majestätisch, die Touristen (oder waren es nicht eher Kriegsflüchtlinge?) rutschten und kullerten dilettantisch talabwärts. Ihr Lachen und Kreischen hallte durch die Luft, und ab und zu sauste ein Könner durch die Menge nach unten.
Und dann geschah das Unglück: Isa geriet versehentlich ein wenig zu weit nach recht s und stieß beinah mit einem der Raser zusammen. Er konnte eben noch ausweichen, fuhr aber unabsichtlich über Isas rechten Ski, woraufhin die das Gleichgewicht verlor, stürzte und auf ihrem Hinterteil seitlich den Hügel hinabschlitterte, auf ein kleines Waldstück zu. Sie verschwand zwischen den Bäumen, während ich mich schon von meinen Skiern losgeschnallt hatte und ihr zu Fuß hinterhereilte. Ob ich es aus Sorge um Isabella tat, oder eher aus einem reinen Reflex heraus (weil man so etwas eben tut und weil all die starrenden und glotzenden Leute es erwarten) kann ich kaum sagen.
Jedenfalls sah ich sie schon bald nur wenige Meter vor mir liegen, auf dem Bauch, den Kopf gleich neben einem dicken Baumstamm. In ihren Haaren klebte Blut, und ich glaubte fest, Isa sei tot. Nach dem ersten Erschrecken empfand ich etwas wie ... nun, man muss schon sagen, etwas wie Erleichterung. Der Weg war frei für He dwig und mich.
Freude begann sich in mein Herz zu s tehlen, aber als ich mich über Isa beugte, um das Ausmaß ihrer Verletzungen einzuschätzen, packte mich eine Enttäuschung, ja eine Wut, die mir im Nachhinein selbst unverständlich und übertrieben erscheint. Isa war keineswegs von mir gegangen, sondern lebte und atmete und begann gerade sich zu bewegen und zu jammern.
Das Blut stammte von einer Schürfwunde im Gesicht und am Kopf, sie war am Baum entlang geschrammt und hatte sich mitnichten daran das Genick gebrochen! Mein Zorn
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