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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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dieser. Nicht ein einziges Mal hatte sie an verlorene Stunden, uralte Tagebücher oder abgeschlossene Zimmer g edacht.
    Außer jetzt natürlich. In diesem Augenblick vermisste sie Hannah. Sie ve rmisste sie so sehr, dass ihr ein paar Tränen über die Wangen zu laufen begannen. Es wurde Zeit, dass ihre Tochter wieder auftauchte, höchste Zeit. Sie wollte sie in den Arm nehmen, über ihr blondes, weiches Haar streichen, die Lebensfreude in ihren Augen leuchten sehen.
    Rike steckte zwei Finger in den Mund und weinte sich in den Schlaf.
    Am nächsten Morgen, es war Dienstag, der 14. September, wurde sie mit einem Gefühl unterschwelliger Unruhe wach. Sie dachte sofort an die Tagebücher im Dachzimmer. Sie hatte noch so viel zu lesen und so wenig Zeit. Die vier Verschwundenen mussten in den nächsten Tagen zurück in die Zeit kommen. Bis dahin musste sie fertig mit Lesen sein.
    Johann hatte bereits den Frühstückstisch gedeckt, als Rike die Küche betrat. Er wir kte gut gelaunt. Sie versuchte, sich die Unruhe nicht anmerken zu lassen, aber ab und zu hatte sie das Gefühl, von ihm beobachtet zu werden. Bevor er hinunter in die Praxis ging, kramte er etwas aus einer Schublade und legte es neben Rikes Tasse auf den Tisch.
    „Ich hab hier mal ein paar Prospekte von Wintersportgebieten besorgt“ , erklärte er und lächelte sanft wie der Dalai Lama persönlich. „Wenn du Zeit hast, sieh sie dir mal an, vielleicht gefällt dir ja was.“
    Nach dem Abwasch blätterte Rike kurz und lustlos in den Reiseprospekten herum und fuhr anschließend, wie sie Johann sagte, zum Friedhof und zum Einkaufen.
    Natürlich galt ihr erster Besuch der Garage, aber die lag verlassen da. Ihr Anblick nährte die Unruhe in ihrem Nervensystem. Die vielen Leute im Supermarkt machten sie noch zusätzlich nervös, und sie war froh, als sie wieder zu Hause war und sich mit dem Mittagessen beschä ftigen konnte.
    Wie jeden Mittag gegen 12.30 Uhr schloss Johann die Praxis für zwei Stunden ab und setzte sich vor seinen Teller an den Küchentisch. Er aß gerne Fleisch und hatte sich Steaks mit Pfe ffersoße gewünscht. Es schien ihm zu schmecken.
    Eben wischte er sich mit der Serviette ein paar Spritzer Soße aus dem blonden Bart, nahm Kartoffeln nach und meinte: „Hast du mal in die Prospekte reingesehen? Könntest du dir wirklich nicht vorstellen, in den Bergen Flitte rwochen zu machen? Vielleicht in den Rocky Mountains?“
    Rike war nicht im Mindesten in Urlaubsstimmung. „Können wir nicht nächsten Monat darüber reden? Ich hab im Moment genug andere Dinge im Kopf.“
    Sie hatte das letzte Wort noch nicht ausgesprochen, als ihr schlagartig klar wurde, wie dumm es war, so etwas zu sagen.
    Johann sah von seinem Teller auf und runzelte die Stirn. „Was ist los, mein Schatz? Gibt es Probleme, von denen ich nichts weiß? Du solltest -“
    Das Handy, das eingeschaltet neben seinem Teller lag, klingelte. Johann meldete sich sofort. Er sagte ein paar Mal „Ja“ und „Ok“ und sah währenddessen Rike ununterbrochen in die A ugen. Lag nicht ein Hauch von ... von Verbitterung in seinem Blick? Hatte das etwas mit seinem Gespräch oder mit ihrer Äußerung zu tun?
    Rike stand auf und schenkte sich etwas zu trinken ein. Johann hatte sein Telefonat beendet und aß jetzt schnell die Reste seines Steaks auf. „Das war Bauer Fra nzen. Auf seiner Weide ist eine Kuh zusammengebrochen“, erklärte er kauend. „Er meint, sie war schon seit Tagen so komisch. Na, hoffentlich bricht da keine Epidemie aus.“
    Er stand auf, kam zu Rike an die Arbeitsplatte, nahm sie in den Arm, drückte sie an sich und streichelte mehrmals über ihr Haar. „Wir reden über deine Probleme, wenn ich wieder da bin, in Ordnung?“
    Rike nickte und gab ihm einen zärtlichen Abschiedskuss. „Natürlich ist das in Ordnung.“ Natürlich. Sie konnte es kaum erwarten, dass er endlich das Haus verließ.
    Zehn Minuten später stand sie am Giebelfenster des geheimen Arbeitszimmers und blätterte in Distelraths Tagebuchaufzeichnungen. Zu trinken hatte sie sich diesmal nichts mitgeno mmen. Sie wollte keine Spuren hinterlassen, die vielleicht nicht mehr zu beseitigen waren. Aber sie hatte sich endlich eine kleinere Taschenlampe gekauft, damit sie Johanns große schwere nicht ständig aus dem Keller holen und dorthin zurückbringen musste.
    Sie schaute kurz aus dem Fenster. Was hatte sie eigentlich zuletzt gelesen? Ach ja, der Mann hatte sich wegen des ersten Weltkriegs in die Schweiz

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