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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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war so ma ßlos, dass ich innerhalb eines Augenblicks handelte. Ich wandte mich um, sah, dass die ersten Helfer sich bereits näherten, und stellte mich so, dass ich Isa fast völlig verdeckte. Dann ergriff ich ihren Kopf mit beiden Händen und drehte ihn mit einem kräftigen Ruck seitwärts. Es knackte vernehmlich, und ihr Körper sackte unter mir zusammen.
    Flugs ging ich neben ihr auf die Knie und begann meine geliebte Isabella zu schü tteln und den fassungslosen, den entsetzten Ehemann zu spielen.
     
    Er hatte sie umgebracht, eigenhändig hatte er sie umgebracht! Und wahrscheinlich war er damit auch noch durchgekommen!
    Rike ließ das Heft sinken und sah abwesend aus dem Fenster. Was für Abgründe taten sich in den Heften auf! Entsprach das wirklich alles den Tatsachen, oder hatte hier ein Mann, der nicht ganz richtig im Kopf war, seine wildesten Phantasien zu Papier gebracht?
    Nein, nach Letzterem klang es ganz und gar nicht. Wenn sie nicht so unter Zeitdruck gesta nden hätte, hätte sie ihre Lektüre an dieser Stelle abgebrochen. So aber blätterte sie vorwärts und überflog die Seiten zweier weiterer Hefte, in denen Distelrath von der schönen Zeit mit Hedwig und der Arbeit im Pferdestall berichtete.
    Als aber der erste Weltkrieg beendet war, spielte Distelrath immer öfter mit dem G edanken, in sein Heimatdorf zurückzukehren. Im Frühjahr 1919 war es so weit.
     
    22.3.1919
    Trotz der großartigen Landschaft, die mich umgibt, empfinde ich doch Sehnsucht nach meiner Heimat. Hedwig, dieses willensstarke Geschöpf, weigert sich mitz ukommen, aber immerhin willigt sie in eine Scheidung ein.
    Da ich inzwischen 128 Jahre alt bin, halte ich es für angebracht, mir für die Heimkehr eine neue Identität zuzulegen, um allzu großes Erstaunen und misstrauisches Nac hfragen unter den Dorfbewohnern zu vermeiden. Dank fürstlicher Spenden konnte ich alle notwendigen Dokumente, Pässe etc. zusammentragen, inklusive eines Totenscheins.
    Mein Testament unterschrieb ich natürlich eigenhändig und natürlich vermachte ich mein ganzes Vermögen mir selbst. Johann Distelrath ist verstorben. Ich habe beschlossen, ein ne ues Leben zu beginnen als mein eigener unehelicher Sohn mit Namen Dr. Johann Wolter.
     
    Rike erstarrte. Dann blieb ihr regelrecht die Luft weg. Und dann plärrte eine laute Stimme in ihrem Inneren: Was soll das?! Du hast es doch geahnt! Die ganze Zeit hast du es, verdammt noch mal, geahnt! Und doch blieb ihr jetzt die Luft weg. Sie hatte einen Mörder geheiratet! Einen mehrfachen Frauenmörder!
    Ihr wurde so schwindlig, dass sie dachte, sie würde hinter dem Schreibtisch zusammenbr echen. Aber das durfte nicht passieren!
    Sie warf das Heft hinter sich, riss das Fenster auf und schnappte nach Luft. Im gleichen M oment wurde ihr übel, so übel wie noch nie in ihrem ganzen Leben. Das Mittagessen drängte mit Macht nach oben. Es war sonnenklar, dass ihr Magen innerhalb der nächsten Sekunden seinen Inhalt von sich geben würde. Genauso klar war, dass sie es nicht bis nach unten ins Bad schaffen würde. Und nicht weniger klar war, dass sie auf gar keinen Fall Johanns dunkelblauen Veloursteppichboden beschmutzen durfte.
    Sie hatte keine andere Wahl - sie klammerte sich mit beiden Händen am unteren Fensterra hmen fest, beugte sich hinaus und erbrach sich von oben herab vor die Haustür. Als nichts mehr kam, zog sie ein Tuch aus der Hosentasche, wischte sich den Mund ab, schloss das Fenster, hob mit zittrigen Knien das Heft auf, stellte es mit ebenfalls zitternden Händen in den Schrank zurück und kroch durch das ausgesägte Loch zurück in den Trockenspeicher.
    Im Moment war ihr Kopf so leer wie ihr Magen. Sie hatte nur einen Gedanken: die Spuren ihrer Übelkeit mussten beseitigt werden, bevor Johann nach Hause kam.
    Mit Beinen wie aus Gummi stieg sie die Treppe hinunter, holte sich in der Küche eine Rolle Küchenpapier, stieg ganz nach unten, ließ die Haustür offen stehen und sah sich die Bescherung an. Durch die Höhe hatte sich das wiedergekehrte Mittagessen in größerem Radius verteilt als üblich. Es war nicht nur auf den Steinplatten zu finden, sondern auch daneben.
    Rike bückte sich, riss Blätter von der Rolle und fing an sauberzumachen. In der Le ere ihres Kopfes tauchte eine Frage auf, die immer lauter und verzweifelter nach einer Antwort verlangte: Wie soll ich mich jetzt verhalten?
    Bevor sie eine Antwort gefunden hatte, hörte sie hinter sich einen Wagen zur Einfahrt herei nkommen. Sie

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