Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mönchskraut

Das Mönchskraut

Titel: Das Mönchskraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
Vom Netzwerk:
Schönheit. Wie alt mag sie jetzt sein? Wahrscheinlich fünfundvierzig, aber ich wette, sie ist immer noch so schön wie eh und je ... Erzähl mir bloß nichts anderes, Meurig! Ich habe noch keine Frau gesehen, die ihr das Wasser reichen könnte.«
    »Ihr Sohn wird dir gewiß nichts anderes erzählen«, entgegnete Meurig grinsend. Sind nicht alle vermißten Nichten schön? Und war das Wetter an den Sommertagen der Kindheit nicht immer strahlend sonnig? Schmeckten die wilden Beeren, die man damals pflückte, nicht viel süßer als jene, die heutzutage wachsen? Bruder Rhys galt schon seit einigen Jahren als leicht senil. Seine Gedanken wanderten wirr durch die Zeiten und die einzelnen Phasen seines Lebens. Die Erinnerung ließ ihn im Stich, seine Fantasie blühte, und er zeichnete im Geiste Bilder, die niemals existiert hatten, weder zu Wasser noch zu Lande -aber vielleicht woanders? Jetzt wurde sein Gehirn von der Gegenwart seines jungen, fröhlichen Neffen angefeuert, sein Gedächtnis vom Wissen um die Blutsbande aufgefrischt. Dieser Zustand mochte nicht von Dauer sein, aber solange er währte, war er ein Gottesgeschenk.
    »Ein bißchen fester ... Ja, das ist genau die richtige Stelle ...« Rhys wand sich entzückt und schnurrte wie eine gestreichelte Katze. Der junge Mann lachte und grub seine Finger noch tiefer in das schlaffe Fleisch, lockerte verkrampfte Muskeln mit schmerzhafter, aber auch segensreicher Kraft.
    »Das machst du sicher nicht zum erstenmal, Meurig«, meinte Cadfael anerkennend.
    »Ich hatte viel mit Pferden zu tun, und die leiden an den gleichen Wehwehchen wie die Menschen. Wenn man ihnen helfen will, muß man lernen, mit den Fingern zu sehen. Man muß die Knoten im Gewebe finden und zu lösen versuchen.«
    »Jetzt ist er Zimmermann und Schnitzer«, verkündete Rhys voller Stolz. »Er arbeitet hier in Shrewsbury.«
    »Wir machen gerade ein Lesepult für eure Marienkapelle«, sagte Meurig. »Wenn es fertig ist, und es wird bald soweit sein, bringe ich es selbst in die Abtei. Dann besuche ich dich wieder.«
    »Reibst du mir auch wieder die Schultern und den Rücken ein? Der Winter steht vor der Tür, und vor Weihnachten dringt mir immer die Kälte bis in die Knochen.«
    »Ja, das will ich tun. Aber für heute ist's genug, sonst tu' ich dir zu weh, Onkel. Zieh dein Hemd wieder an, damit die Wärme in der Haut bleibt. Ja, so ist's recht. Wie fühlst du dich denn?«
    »Zuerst hat's geprickelt, als hätte ich mich in Brennesseln gesetzt, aber jetzt spüre ich nur noch eine angenehme Hitze - und überhaupt keine Schmerzen. Aber ich bin müde ...«
    Kein Wunder, daß er erschöpft war nach dieser Neubelebung seines welken Körpers und seines alten Gehirns ...
    »Ja, natürlich. Du solltest dich jetzt hinlegen und schlafen.«
    Hilfesuchend sah Meurig auf Cadfael. »Das würde ihm doch guttun, nicht wahr, Bruder?«
    »Allerdings«, stimmte Cadfael zu. »Das war eine sehr intensive Behandlung, Rhys, und danach mußt du dich unbedingt ausruhen.«
    Rhys ließ sich zufrieden auf seine Kissen betten. Bald übermannte ihn der Schlaf. Seine leisen Abschiedsworte folgten ihnen zur Tür und verstummten, noch bevor die beiden Männer dort angekommen waren. »Ich lasse deine Mutter schön grüßen, Meurig ... Bitte sie doch, mich zu besuchen ...
    Wenn sie die Wolle auf den Shrewsbury-Markt bringen ... Ich würde sie so gerne wiedersehen ...«
    »Offenbar hält er große Stücke auf deine Mutter«, meinte Cadfael, während er zusah, wie sich der junge Mann die Hände wusch, und sich vergewisserte, daß dies mit der nötigen Sorgfalt geschah. »Darf er hoffen, sie bald zu sehen?«
    Meurigs Gesicht, das Cadfael jetzt im Profil sah, drückte einen nachdenklichen Ernst aus, der seine frühere Heiterkeit Lügen strafte. Nach kurzem Zögern antwortete er: »Nicht auf dieser Welt.« Er griff nach einem Handtuch und sah Cadfael in die Augen. »Meine Mutter ist gestorben. An diesem Michaelstag werden es elf Jahre ... Er weiß es - oder er wußte es - ebenso gut wie ich. Aber warum soll ich ihn daran erinnern, wenn sie in seinem Greisenalter wieder zum Leben erwacht ist?
    Soll er doch mit dieser Einbildung glücklich sein - und mit allen anderen, die ihm Freude machen ...«
    Schweigend gingen sie in die kalte Luft hinaus, die den großen Hof erfüllte. Dort trennten sie sich. Der schwarzhaarige Bursche eilte zum Pförtnerhaus, und Cadfael wandte sich zur Kirche, wo die Abendandacht in wenigen Minuten beginnen mußte. »Alles

Weitere Kostenlose Bücher